Kohärenz 01 - Black*Out
dunklen, schweren Wolken herab?
Und daran zu denken, dass einmal alles in Ordnung gewesen war … Er packte den Kieselstein, mit dem er herumgespielt hatte, und schleuderte ihn in Richtung See.
Das letzte Weihnachtsfest, das sie noch alle gemeinsam gefeiert hatten – wie viele Jahre war das her? Vier? Fünf? Seine Großmutter hatte noch gut genug sehen können, um sich an dem prächtig geschmückten Baum zu erfreuen. Großvater hatte seinen guten Anzug getragen, ein altmodisches Stück mit Weste und steifem Kragen und einer Uhrkette vor dem Bauch. Christophers Mutter hatte viel gelacht, Dad hatte sich den Pullover mit Bratensoße bekleckert, und das ganze Haus hatte nach Weihnachten geduftet, nach Vanille, nach Kerzenwachs, nach Tanne.
Vorbei. Nie wieder würde es noch einmal so sein. Seine Großeltern waren tot und seine Eltern Teil der Kohärenz, die das Haus in Frankfurt als Sitz einer ihrer zahllosen Firmen nutzte. Er war auf der Flucht. Was er von nun an immer sein würde; dieses Camp war nicht mehr als eine Verschnaufpause.
Und seine eigenen Eltern, sollten sie ihm je wieder gegenüberstehen, würden nicht zögern, ihm Gewalt anzutun, um ihn in die Kohärenz zurückzubringen.
Christophers Finger hatten sich schon den nächsten Stein gesucht, sein Arm machte schon Anstalten, ihn hinaus aufs Wasser zu schleudern, als sein ganzer Körper in der Bewegung innehielt.
Eine Idee war aufgetaucht, einfach so.
Eine sehr, sehr vage Idee. Nur die Umrisse eines Plans, von dem er im Moment noch nicht mehr sagen konnte, als dass er total hirnverbrannt war. Durchgeknallt. Geradezu wahnsinnig.
Aber was machte das, wenn man nichts zu verlieren hatte?
Aufregung erfüllte ihn, seine Gedanken fingen an zu rasen. Nicht zu früh freuen. Erst mal alles gründlich durchdenken, so gründlich, wie er noch nie zuvor etwas durchdacht hatte.
Sein Gegner war nicht irgendein Bankensystem oder eine militärische Firewall, sein Gegner war die Kohärenz. Hier durfte ihm kein Fehler unterlaufen.
59 | Nachdem sie das Gemüse abgeliefert hatten, sahen sich Serenity und Madonna nach einer anderen Arbeit um. Irene war irgendwo im Camp unterwegs, und als sie auf der Suche nach ihr vor das Versorgungszelt traten, hellte sich Madonnas Miene auf. »Darauf hab ich die ganze Zeit gewartet«, wisperte sie aufgeregt und deutete in Richtung Feuer. »Komm!«
»Was denn?« Serenity folgte ihrer neuen Freundin verwundert.
Wie sich herausstellte, ging es um Naschwerk. Zwei Frauen hatten aus Honig und allerhand weiteren Zutaten eine Süßspeise zubereitet, die über dem offenen Campfeuer auf einem Metallblech ausgebacken und am Schluss in Quadrate geschnitten wurde. Die dabei abfallenden Randstücke seien, erklärte Madonna, die Köstlichkeit schlechthin, vor allem, solange sie noch warm waren.
»Man muss den richtigen Moment abpassen«, meinte sie. »Deswegen hab ich mich überhaupt nur für die Küche gemeldet.«
Die beiden Frauen grinsten, als sie Madonna kommen sahen, und rückten bereitwillig den knusprigen Schnittabfall heraus. Serenity probierte skeptisch, weil die Süßigkeit fremdartig roch und aussah – aber es stimmte, die schmalen goldbraunen Streifen schmeckten zum Niederknien gut.
Im nächsten Moment tauchte hinter ihnen ein stiernackiger Junge auf mit einer Nase, die aussah, als sei sie schon öfters gebrochen gewesen. Während Madonna aufkreischte, griff er ungerührt mit seinen breiten Händen zu, schnappte sich wie der Blitz den größten Teil der Randstücke und machte, dass er wieder davonkam.
»George Angry Snake!«, schrie Madonna ihm nach. »Du bist ein solcher Mistkerl!«
Der Junge, er mochte nur wenig jünger sein als Kyle, drehte sich grinsend herum, hob seine Beute triumphierend empor und verschwand ohne einen Kommentar im Wald.
»Hey, wie fies war das denn?«, sagte Serenity, der nur zwei kleine Stückchen geblieben waren.
Madonna sah dem Indianer finster nach. »Das Problem ist, dass er immer weiß, wo ich bin und was ich denke.«
»Echt?«, wunderte sich Serenity.
»Das ist so ein Medizinmann-Trick.« Mit verstellter, hohler Stimme fügte sie hinzu: »Uraltes indianisches Wissen.« Madonna zuckte mit den Achseln. »Wenn ich mal nichts anderes zu tun habe, werd ich ehrfürchtig erschauern.«
Serenity war schwer beeindruckt. »Also, ich finde das ziemlich …« Sie zögerte, cool zu sagen. »Praktisch.«
»Ja? Also, ein Mobiltelefon find ich praktischer.«
Während sie noch auf den wenigen Süßigkeiten,
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