Kohärenz 02 - Hide*Out
vermutlich ohnehin nicht verstanden hätte. Auf jeden Fall aber schaute gerade wirklich absolut niemand in seine Richtung.
Das war gut so, denn der Pentabyte-Man schickte ihm die aktuellen IP-Adressen, die Christopher brauchen würde, sowie die Zugangscodes. Beides zwar ROT13/ROT5-verschlüsselt, aber das war für professionelle Hacker fast so gut wie Klartext.
Christopher merkte sich die Angaben und löschte alles spurlos vom Rechner. Danke!, schrieb er zurück. Pass auf dich auf.
Du auch, Computer*Kid, kam zurück, gefolgt von: Pentabyte-Man logged out.
Madonna würde enttäuscht sein, klar. Wahrscheinlich würde sie ihn danach sogar hassen. Am besten, er versuchte gar nicht erst, es ihr zu erklären. Er würde einfach ein anderes Musikvideo suchen, eines, das mit Jones und seiner Gruppe nicht das Geringste zu tun hatte, und verfolgen, wie sich dessen Klickraten entwickelten. Das würde den Zweck genauso erfüllen.
Okay. An die Arbeit. Christopher löschte seine eigenen Mailadressenlisten wieder – Kinderkram, verglichen mit dem System, das der Pentabyte-Man über die Jahre errichtet hatte –, dann verfasste er die Mail, die an alle Welt gehen sollte. Auf der Herfahrt hatte er sich verschiedene Versionen durch den Kopf gehen lassen, nun entschied er sich für eine ganz einfache:
Hi,
den Song hier MUSST Du Dir anschauen. Ein Ohrwurm und der nächste große Hit, wetten?
http://www.youtube.com/watch?v=
Nun musste er nur noch ein passendes Video finden, dessen Code anfügen und die Mail abschicken. Pentabyte-Mans Programme würden automatisch eine Grußformel und noch ein paar Dinge einfügen, die auf die Empfängeradresse abgestimmt waren und die die Mail so aussehen lassen würden, dass die meisten Empfänger das Gefühl haben würden, den Absender zu kennen.
Bloß fiel es Madonna ausgerechnet jetzt ein, sich loszueisen und lässig zurückzuschlendern. Christopher ließ den Browser verschwinden und bereitete stattdessen die Löschprozeduren vor, die den PC wieder in den Zustand versetzen würden, in dem Christopher ihn vorgefunden hatte.
»Und?«, fragte sie. »Fertig?«
»Fast«, sagte Christopher. »Ein paar Minuten brauche ich noch.«
»Aber es klappt, oder?«
»Ich hoffe.« Er würde es ihr später erklären. Auch wenn das jetzt feige war. War es, keine Frage. Falls sie ihm die Augen auskratzte, sobald sie die Wahrheit erfuhr, geschah ihm das recht.
Aber besser, sie tat das erst, wenn sie zurück im Camp waren. Wenn er jetzt damit herausrückte, machte sie ihm vielleicht eine Szene, von der man hier im Ort noch jahrelang erzählen würde.
Er zögerte. Sie stand hinter ihm, sah ihm über die Schulter. Irgendwas musste er tun, also fügte er eben den Link zu ihrem Video in die Mail ein.
»Und?«, meinte sie nervös. »Schick’s schon ab!«
»Ich bin noch nicht so weit«, gab er murmelnd zurück.
Nein, es ging nicht. Das Risiko war nicht vertretbar. Er musste sie noch einmal fortschicken, irgendwie…
Madonna stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus und ging ein paar Schritte weiter. »Ehrlich gesagt glaub ich das sowieso erst, wenn ich es sehe«, gestand sie und zog ihr Telefon aus der Tasche. »Ich versuch’s noch mal bei meiner Cousine.« Sie schaltete es ein. »Immer noch kein Netz. Schade, jetzt erfahren wir doch nicht, wie… Halt. Da ist es. Volles Netz, hundert Prozent.«
Das war das Letzte, was Christopher hörte. Dann stieg brausende Schwärze um ihn herum hoch, saugte ihn auf, und dann wusste er nichts mehr.
Feindberührung
28 | Es war keine Bewusstlosigkeit. Der Film riss nicht, es wurde nur das Programm umgeschaltet. Und zwar auf einen ziemlich düsteren Kanal.
Das, was er für Realität gehalten hatte, verschwand, und Christopher, der in diesem Moment zu vergessen begann, dass dies sein Name war, fand sich in einem gewaltigen schwarzen Mahlstrom wieder, einem Ansaugtrichter aus Daten, einem alles verschlingenden Strudel, in dem man rudern und fuchteln konnte, wie man wollte, und doch immer tiefer und tiefer hinabgesogen wurde. Es war, als habe sich in seinem Inneren ein Verschluss geöffnet, aus dem dichte, undurchdringliche Schwärze herausquoll und ihn überflutete, ihn brausend umhüllte und in die Tiefe zu ziehen versuchte.
Wer war er? Christopher. Was bedeutete das? Ein Name. Sein Name. Aber was war das schon – ein Name… ?
Irgendetwas bot ihm Halt, rettete ihn für den Moment, doch der Halt bröckelte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er nachgeben würde.
Weitere Kostenlose Bücher