Kohärenz 02 - Hide*Out
berührten, weiche, warme, feuchte Lippen; er spürte einen fremden Atem auf seinem Gesicht und roch den Duft einer fremden Haut, fühlte kitzelnde Haare über seinem Gesicht und vergaß dann doch alles wieder, weil die Berührung dieser Lippen ihn durchzuckte wie ein elektrischer Schlag, der seine Kopfhaut kribbeln und seine Arme und Beine erzittern ließ.
Die Dunkelheit in seinem Inneren schlug Wellen, der digitale Sog verblasste zu schwarzem Nebelhauch, die ganze Maschinerie, die ihn eben noch in einem unentrinnbar scheinenden Griff gehabt hatte, kam durcheinander, geriet ins Stocken, knirschte, krachte, blieb einen Moment lang stehen. Einen Moment, den Christopher reflexartig ausnutzte, um die virtuelle Tür, durch die das Unheil in ihn eingedrungen war, zuzuschlagen und den Türgriff festzuhalten.
Dann öffnete er die Augen und blickte in das Gesicht der jungen Indianerin, die ihn erschrocken ansah.
»Christopher! Bist du okay?«
Die Tür war zu und blieb es. Gut. Christopher rappelte sich auf, stemmte sich blinzelnd in sitzende Position. Hatte er wirklich auf ihren Knien gelegen? Hatte sie ihn wirklich geküsst oder hatte er sich das nur eingebildet? Ihm war auf einmal entsetzlich heiß.
Egal. Hauptsache, er hielt diese Tür in seinem Inneren zu. Das war das Wichtigste.
»Christopher?« In Madonnas Stimme lag nun fast Panik.
»Die Kohärenz.« Seine Stimme fühlte sich seltsam rau an, wie eingetrocknet, so, als habe er jahrelang kein Wort gesprochen. »Sie hat versucht, mich zu überwältigen. Sie… sie hätte es beinahe geschafft.« Er sah sich um, begriff wieder, wo er war, wäre gern aufgestanden und konnte es nicht.
Und die ganze Zeit spürte er dieses Vibrieren in seinem Geist. Als ränne die Kohärenz gegen den Widerstand an, den er in seinem Inneren aufgebaut hielt. Er durfte keinen Augenblick lang nachgeben, nicht eine Sekunde.
»Du bist plötzlich einfach umgefallen«, sagte Madonna.
Der junge Typ von der Bar kam herbei, ging vor ihnen in die Hocke, musterte Christopher mit aufmerksamer Besorgnis. »Hi«, sagte er. »Alles in Ordnung? Der Arzt ist unterwegs. Am besten, du bleibst hier einfach sitzen. Ruhst dich aus, okay?«
Ich darf nicht nachgeben, dachte Christopher. Die Tür verschlossen zu halten: Darauf galt es, sich zu konzentrieren. Alles andere musste nebenbei laufen. »Nein. Keinen Arzt«, zu sagen beispielsweise.
»Hey, du bist einfach umgekippt. Ist nicht so, dass ich noch nie jemanden hätte umkippen sehen; so was kommt in einer Bar schon mal vor. Aber so wie du kippen Leute selten um. Wie ein gefällter Baum. So was schafft nur massiv zu viel Alkohol – oder es ist etwas Krankhaftes.« Er tätschelte ihm den Oberarm. »Also, schön dableiben, okay?«
Ich darf nicht nachgeben, dachte Christopher. Die Tür in seinem Inneren zitterte. Nicht nachgeben. Der junge Mann mit dem Pferdeschwanz lächelte ihm aufmunternd zu und erhob sich wieder. Nicht nachgeben.
»Wann ist mir das passiert?«, fragte er Madonna. »Als… das Mobilfunknetz wieder da war?«
Sie riss die Augen auf. »Ich glaube. Ja. Kann sein.«
Nicht nachgeben. Dem Ansturm standhalten. »Dann müssen wir zurück ins Camp. So schnell wie möglich. Ich muss raus aus dem Empfangsbereich. Mit meinem Chip ist irgendwas passiert und ich weiß nicht, wie lange ich ihn noch unter Kontrolle halten kann.«
30 | Alles in allem, sagte sich Serenity, fehlte ihr die Schule doch nicht so sehr, wie sie gedacht hatte. Sie hätte jedenfalls ohne Weiteres darauf verzichten können, sich jetzt nach dem Mittagessen, an einem strahlend schönen Tag, an dem man sonst was hätte machen können, mit ihren Eltern zusammenzusetzen, um zu besprechen, wie man einen Heimunterricht für sie organisieren konnte.
Sie suchten sich einen Platz abseits des Camps, an einem abgeschabten Campingtisch zum Zusammenklappen, der unter einem Baum stand. Ein Vogel hockte auf einem Ast und beäugte sie neugierig, zog es dann aber doch vor, sich eine andere Unterhaltung zu suchen. Genauso wie es Serenity am liebsten getan hätte.
Dad schien das alles auch nicht wirklich Spaß zu machen. Er setzte sich, legte sein Notizbuch vor sich hin und zwei Kugelschreiber daneben, sagte aber nichts. Er sah Serenity nicht an, nur Mom.
Serenity dachte an ihre neue Freundin Madonna. Die hatte solche Sorgen nicht. Sie war erst gar nicht auf die Highschool gegangen; in den Reservaten sei das nicht üblich, hatte sie ihr erklärt. Da mache man nach der Elementary School gleich
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