Kohärenz 02 - Hide*Out
unserer Stammesgeschichte befasst haben. Wir Blackfeet haben viele schwere Zeiten überstanden, wir werden auch die Invasion der Weißen überstehen. Der weiße Mann – das sind gerade mal zweihundert Jahre!« So, wie er es sagte, klang das wie eine lächerlich kurze Zeitspanne. Ungefähr so, wie man sagte: Ein Schnupfen? Ist nächste Woche auskuriert.
Christopher starrte aus dem Fenster. Dachte George ernsthaft, dass alles da draußen – all die Straßen, Gebäude, Stromleitungen und Werbeplakate und schließlich auch all die anderen Leute, die hier lebten – eines Tages verschwunden sein und die Blackfeet wieder über die Prärie reiten würden, wie sie es vor der Ankunft des weißen Mannes getan hatten?
Das konnte er unmöglich erwarten. Nicht zuletzt würde es daran scheitern, dass – so viel fiel ihm jetzt doch wieder ein aus jener lange zurückliegenden Geschichtsstunde – die weißen Siedler die Büffel ausgerottet hatten, die wesentliche Ernährungsgrundlage der Indianer.
Nach diesem Ausbruch versank George wieder in Schweigen. Irgendwie schien die Landschaft gemeinsam mit ihm zu schweigen; sie wurde immer kahler, flacher, langweiliger. Eine Straße durch graugrünes Grasland, darüber ein Himmel, an dem Wolken zogen, die auf seltsame Weise größer und bedrohlicher aussahen als die, die Christopher aus Europa kannte. Es war ein Land, das ihm das Gefühl vermittelte, ein starker Wind könnte ihn davonwehen und über den Rand der Welt hinaustragen ins Unbekannte.
64 | Was ihre Besuche bei Zeitschriftenverlegern, Radiomachern und Kulturbeauftragten aller Art anging, spielte sich allmählich eine gewisse Routine ein. Wenn Rus und Jeremiah von einem Termin zurückkehrten, fragten die anderen: »Und?«
Worauf Jeremiah stets antwortete: »Wie immer.«
Was nur ein anderer Ausdruck dafür war, dass sie wieder keinen Erfolg gehabt hatten. Niemand wollte der Erste sein, der mitmachte. Und man konnte es den Leuten nicht einmal verdenken.
»Wenn ihr wenigstens mit einer halbwegs glaubwürdigen Geschichte ankommen würdet«, sagte Anthony Finney. »So was wie: Die Mondlandung hat nie stattgefunden, die Aufnahmen sind alle im Filmstudio entstanden. Oder: Die Regierung verschweigt uns seit fünfzig Jahren die Landung von Aliens. Stattdessen erzählt ihr den Leuten von Computerchips in Köpfen, von Upgradern und Kohärenz… Das mit dem Gemeinschaftsbewusstsein kapiert sowieso kein Mensch. Es wäre besser, ihr würdet einfach sagen, die Leute würden über den Chip ferngesteuert. Darunter kann man sich was vorstellen.«
»Ich werde nichts behaupten, was nicht stimmt«, erwiderte Jeremiah. »Es gibt schon genug Leute, die sich hirnverbrannte Geschichten aus den Fingern saugen.«
Der einzige Lichtblick des Tages war, dass sie über Mittag bei Freunden zu Gast waren: Peter und Jacqueline Harper. Jacqueline war zu Zeiten, als Jeremiah noch Architektur unterrichtet hatte, eine seiner Studentinnen gewesen und hatte seinen Entwicklungsweg fast von Anfang an mitbekommen. Sie war unter denen gewesen, die ihm bei seinen ersten Experimenten, die alte Gartenbaukunst wiederzubeleben, geholfen hatte: Ihre ersten Versuche, Obst und Gemüse ohne Industriedünger, genmanipuliertes Saatgut und dergleichen zu ziehen, kamen ihm aus heutiger Sicht geradezu rührend unbeholfen vor. Aber es war ein Anfang gewesen.
Ihr Mann Peter war damals total gegen ihren »Trip« gewesen, wie er sich ausgedrückt hatte. Er und Jeremiah hatten sich ausgiebig gestritten, was oft eine gute Basis für lebenslange Freundschaften ist. Nach dem Studium war er als Börsenmakler nach New York gegangen, bis ihn ein mittelschwerer Herzinfarkt aus dem Gleis geworfen und gezwungen hatte, sein Leben neu zu überdenken. Danach waren sie in den Westen gezogen; Peter reparierte heute Haushaltsgeräte und Traktoren und Jacqueline züchtete in ihrem großen Garten so viel Gemüse, dass sie das meiste davon verkaufen musste.
Natürlich kam Jeremiah nicht darum herum, diesen Garten zu besichtigen und angemessen zu würdigen. Während sich die anderen noch an den Resten des Nachtischs gütlich taten, folgte er seiner ehemaligen Studentin durch die Bohnenspaliere und Tomatenstöcke, bewunderte Hügelbeete, die Kartoffelzucht in Fässern und den geradezu mustergültig angelegten Kompost.
»Bis letztes Jahr hatte ich außerdem noch zwei Ziegen«, erzählte Jacqueline, während sie das von Bäumen und Büschen bewachsene Freigehege der Hühner entlangspazierten,
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