Kohärenz 03 - Time*Out
Ausnahmezustand. Man hatte den Platz vor der Kirche weiträumig abgesperrt. Überall standen hüfthohe Gitter und Polizisten, wobei niemand etwas dagegen zu haben schien, wenn man hinter den Absperrungen stehen blieb, um zuzusehen. Und das taten sie, zusammen mit Hunderten anderer.
Es war eine enorme Szenerie, die man da aufgebaut hatte. Dutzende von Leuten in historischen Kostümen standen vor dem Kirchenportal, eine Maskenbildnerin ging durch die Reihen, tupfte die Komparsen ab oder schminkte sie nach. Die Sonne glühte heiß von einem wolkenlosen Himmel, trotzdem hatte man zusätzlich Scheinwerfer aufgestellt und hier und da reflektierende Folien gespannt. Eine Kamera lief auf Schienen; zwei junge Männer zogen in einer geschmeidigen Bewegung den Schlitten, auf dem sie stand. Während der Fahrt spähte der Kameramann durch den Sucher und schwenkte die Kamera dabei: Offenbar überprüfte er, ob alles wie geplant funktionieren würde.
»Man kann diese Szene nur nachmittags drehen«, erklärte Guy leise, »weil die Sonne das Portal beleuchten muss. Und das ist bei den meisten Kirchen nach Westen gerichtet.«
»Ach so?« Das hatte Serenity nicht gewusst. Sie betrachtete fasziniert ein paar Klappstühle im Schatten eines Andenkenladens. Das war ja wirklich Hollywood pur! Mit Namen auf den Rückenlehnen!
Auf dem Stuhl neben dem Regisseur saß der Produzent Richard Bryson. Die beiden diskutierten, dann stand der Regisseur auf und trat zu den Leuten in den Kostümen, schien ihnen etwas zu erklären.
»Ich beneide die Komparsen«, gestand Guy. »Wenn nicht diese ärgerliche Geschichte mit der Flucht wäre, hätte ich mich auch gemeldet.« Er grinste, fuhr sich mit einer gespielt affektierten Bewegung durch das wallende Haar. »Die hätten mich bestimmt genommen.«
Christopher warf ihm einen skeptischen Blick zu. »Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?«
»Oh, du würdest dich wundern, in wie vielen Filmen ich zu sehen bin. Mal sitze ich im Hintergrund auf einer Bank, mal schiebe ich einen Kinderwagen durchs Bild, mal lade ich Kisten aus, beschwere mich bei einem Kellner ... Ich hatte ein ganzes Regal mit DVDs davon. Schade, sind alle in die Luft geflogen.«
»Wieso erzählst du dann, du willst nicht, dass dein Gesicht im Internet oder in sonstigen Medien auftaucht?«
»Nicht zusammen mit meinem Namen!« Guy hob den Zeigefinger. »Ein kleiner, aber entscheidender Unterschied. Als Komparse bleibt man anonym.«
Serenity sah beunruhigt, wie Christophers Augen plötzlich unnatürlich groß wurden. Er flüsterte etwas, das klang, als sei es Deutsch und außerdem ein Schimpfwort. »Wir sind Idioten«, fuhr er auf Englisch fort und mit einem Ausdruck im Gesicht, als blicke er in einen Abgrund. »Vollidioten. Totale Hornochsen ... «
Er kam nicht dazu, zu erklären, was er damit meinte, denn in diesem Augenblick wandte sich der Regisseur per Megafon an die Zuschauer und bat um absolute Ruhe – erst auf Französisch, dann wiederholte er es noch einmal auf Englisch.
Wenig später ging es los. Der Mann hielt die Klappe vor die Kamera, der Regisseur rief durchs Megafon: »Und ... Action!« – und alles geriet in Bewegung.
Die Kirchentür schwang auf. Ein Brautpaar trat heraus, wobei die Braut natürlich von niemand anderem als Sophie Lanier gespielt wurde. Die Leute in den Kostümen jubelten, warfen etwas, das Reis sein mochte oder Konfetti, applaudierten ...
Da, plötzlich: ein Knall! Rauch stieg auf. Die Komparsen flüchteten, während wild kostümierte Männer aus den sich rasch verziehenden Pulverwolken auftauchten, Piraten offenbar, die die schreiende Braut entführten.
»Cut!«, rief der Regisseur, und alles kam zum Stillstand. »Auf Anfang, wir machen es noch einmal.«
Man rollte die Kamera wieder ans andere Ende der Schiene, die Komparsen kehrten zum Portal zurück. Der Regisseur ging zu den Schauspielern, die die Piraten spielten, um ihnen gestenreich etwas zu erklären.
Bryson, allein gelassen, begann, sich müßig umzuschauen. Christopher duckte sich hinter Guys Rücken. »Gibt es jemanden, der dein Bild und deinen Namen haben könnte?«, fragte er dabei.
»Hoffentlich nicht«, erwiderte Guy.
»Das Einwohnermeldeamt? Die Passstelle? Die hat dein Bild.«
Guy lächelte nachsichtig. »Das denken die vielleicht. Ich hab mich reingehackt und die Bilddatei gelöscht, sobald ich meinen Pass hatte. Abgesehen davon bewege ich mich fast nur im Schengenraum; du brauchst heutzutage in Europa ja praktisch keinen
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