Kohl des Zorns
sonst geschehen wäre. Keinerlei Hanteln, Gymnastikwände und Turngeräte hier drin, welch ein erfreulicher Anblick.«
Neville glättete die Falten seiner Schürze und straffte seine Krawatte. »Das ist ein für alle Mal erledigt, wie ich hoffe. Obwohl ich mich allmählich frage, wo Omally nur steckt.«
»Wahrscheinlich in seinem Bett und schläft seinen letzten Rausch aus …?«
Neville setzte ein nachdenkliches Gesicht auf. »Wenn er bis zwölf Uhr noch nicht angetreten ist, sehe ich mich gezwungen, ihn ›gehen zu lassen‹, wenn du diesen Euphemismus entschuldigen magst.«
»Ich entschuldige fast alles bei einem Mann, der mir einen Drink spendiert. Und die religiösen Überzeugungen anderer gehen mich nichts an.«
Neville glättete sein pomadenglänzendes Haupthaar. Er benötigte eine Zeitlang, um die letzte Bemerkung zu verstehen. Wo steckte Omally nur? Bisher hatte sich der Ire makellos geschlagen. Neville hatte jeden Trick aus dem Repertoire seiner Stammgäste ausprobiert, doch Omally stand weit über den Dingen.
Seine Pünktlichkeit war tadellos, seine Hilfsbereitschaft legendär, seine Freundlichkeit angesichts betrunkener Beleidigungen eine weitere Legende, seine Ehrlichkeit schon beinahe furchterregend. Und warum um alles in der Welt mußte er das jetzt zerstören, indem er nicht zur Arbeit erschien und sich noch nicht einmal telephonisch entschuldigte, wie fadenscheinig auch immer? Wirklich sehr seltsam.
Plötzlich kam Neville ein schrecklicher Gedanke: Vielleicht hatte Omally einen Unfall gehabt? Vielleicht lag er krank in seinem Bett? Der Teilzeitbarmann fühlte sich plötzlich miserabel. Wie oberflächlich er doch war, wie erbärmlich oberflächlich, und er nannte sich einen Menschenkenner und Psychologen! Was wußte er schon wirklich über die menschliche Natur? Nichts, nur Unsinn, Mist und noch einmal Mist, das wußte er. Neville ließ den Kopf hängen. Er würde zu Omally gehen und nach ihm sehen, nachdem er den Laden geschlossen hatte.
»Manchmal denke ich, diese Arbeit hier verdirbt den Charakter«, verriet er dem Alten Pete. »Ich bin zu einem kompromißlosen, mißtrauischen, engstirnigen Pädagogen geworden.«
»Das ist doch nicht so schlimm«, tröstete ihn der Alte. »Viele meiner besten Freunde haben im Krieg ein Bein oder mehr verloren. Ein Mann mit einem Bein kann genausogut hüpfen wie ein Mann mit zweien.«
»Und der Löwe brüllt nicht, bevor er nicht satt ist«, warf Norman ein und joggte zur Theke. »Was ist denn los, Pete?«
»Neville ist einem religiösen Orden beigetreten und will sich ein Bein amputieren lassen«, erwiderte der alte Idiot. »Aber wie siehst du denn aus, Norman?«
»Gut, was?« sagte der Eckladenbesitzer und drehte sich einmal um die eigene Achse. »Hab’ ich selbst entworfen. Ziemlich schick, nicht wahr?«
Der Alte Pete musterte den Ladenbesitzer von oben bis unten, und Neville lehnte sich über den Tresen, um bessere Sicht zu haben.
Norman sah sportiv aus, denn das war definitiv das richtige Wort. Er steckte in einer Garderobe, die, selbst wenn man seinen Hang zur Exzentrizität bedachte, äußerst extrem war — um noch das mindeste zu sagen. Alte Stoffturnschuhe, leuchtend orange gefärbt, Fußballstutzen in den Farben Brentfords, knielange Shorts aus Matratzendrillich und ein weites T-Shirt mit aufgedruckten Olympischen Ringen und dem legendären »Hartnell greift nach Gold« in Filzstift quer über die Brust gemalt. Ein pinkfarbenes Schweißband in der Stirn und dazu passende Handgelenksmanschetten komplettierten das Ensemble zu einem höchst schrillen Ganzen. »Die Offizielle Brentforder Olympiamontur«, stellte Norman seine Schöpfung voller Stolz vor. »Ich habe sie entworfen, und Vater Moity stattet die gesamte Mannschaft damit aus.«
»Die gesamte Mannschaft?« erkundigte sich Neville.
»Geheime Trainingseinheiten.« Der Eckladenbesitzer tippte sich wissend an die Nase. »Scheint doch nur angebracht, daß die Heimmannschaft die meisten Goldmedaillen erringt, oder nicht?«
»Norman«, sagte Neville, »ganz bestimmt gibt es ein britisches Team. Ich meine, mich an Namen wie Sebastian Coe und Daley Thompson und was weiß ich zu erinnern.«
»Sie lassen euch sowieso nicht rein«, sagte der Alte Pete verächtlich. »Das sind die Olympischen Spiele, nicht irgendeine blöde Narrensitzung in Notting Hill!«
Chips unterdrückte ein Kichern.
»Der Prophet gilt nichts im eigenen Land, jaja«, zitierte Norman. »Wartet’s nur ab, ihr werdet schon
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