Kohl, Walter
Lebensgefühl kennen.
Plötzlich fühlte ich mich - als Mann. Ich musste meine Mutter trösten und
beschützen! In ihrem und in meinem eigenen Interesse. Das fühlte ich überaus
klar und deutlich, mit aller Treuherzigkeit und Konsequenz, zu der ein
dreizehnjähriger Junge in der Lage ist. Ich verspürte eine sehr starke
Verpflichtung, mich völlig mannhaft zu verhalten. Dies war der Notwehrmechanismus,
auf den meine Psyche unbewusst zurückgriff, um nicht durchzudrehen. Von da an
war ich in der Lage, mit meiner akuten Angst, mit meiner latenten Wut, mit meinen
chronischen Verlassenheitsgefühlen wie ein frühreifer Erwachsener umzugehen.
Der Preis
für mich selbst? Er wog beträchtlich. Und er wurde nicht auf einen Schlag
entrichtet. Es sollten sogar noch weitere Forderungen hinzukommen, eine Art
Nachschlag, von dem später zu berichten sein wird. Für jetzt bewahrheitete
sich auch an mir, dass die kindliche Psyche mit geradezu unglaublicher
Effizienz genau die richtigen Prioritäten zu setzen vermag, um einen Beitrag
zu leisten, durch den der systemische Zusammenhalt der Familie gewahrt bleibt.
Denn sonst würde ja alles zusammenbrechen, glaubt das Kind. Weil es nicht über
die Differenzierungsfähigkeit verfügt, um die Familienmuster anders zu
beeinflussen als in einer sehr klaren und eindeutigen, geradezu »binären« Form.
Du oder ich.
Opfer oder Täter. Leben oder Untergang. Alle oder keiner.
Das war
die Logik meines kindlichen Beziehungsmanagements. Indem ich mich selbst
sabotierte, hoffte ich das »System Familie Kohl« zu stärken und zu heilen,
wenn schon nicht dauerhaft, dann doch wenigstens vorübergehend, damit es eine
seiner tiefsten Krisen überstand. Indem ich Ruhe gab, kam auch meine Mutter
wieder zur Ruhe, jedenfalls einigermaßen.
Der Preis
war, dass ich meine eigenen Gefühle zu verneinen begann und zunehmend von
meiner eigenen Wertlosigkeit und Unwichtigkeit überzeugt war. Sonst hätte ich
mich nicht auf meine Mutter und ihr Wohlergehen zu konzentrieren vermocht. Was
mich selbst schmerzte, musste verdrängt werden. Ich selbst war mir noch nie
besonders wichtig vorgekommen, jetzt aber arbeitete ich mich förmlich in die Überzeugung
hinein, dass mein eigenes Leben, dass ich, Walter Kohl, geradezu nichtig sei.
Der Boden dafür war von langer Hand fruchtbar gemacht, und nun brachte ich
selbst die Saat eines tief sitzenden Minderwertigkeitsgefühls aus.
Hatte ich
es bisher auch nicht gewagt, meinen Vater mit Fragen oder gar mit Vorwürfen zu
behelligen, so hatte ich doch jede sich bietende Gelegenheit zu nutzen
versucht, sie vor meiner Mutter zu äußern. Jetzt aber, da sie am Ende war und
ich am Anfang des Erwachsenseins zu stehen schien, verzichtete ich auch
darauf. Es war wie die Geste eines Verzweifelten, und es musste dazu führen,
dass ich meiner eigenen Gefühlswelt in der hölzernen Haltung eines strammstehenden
Soldaten begegnete. Ich »nahm hin«, ich »fand mich ab«, ich stellte keine
Ansprüche mehr. Aber ganz tief innen drin, da akzeptierte ich nicht. Ich fraß
mein Leid in mich hinein, ich ebnete damit mir selbst den Weg ins Opferland.
Rein
äußerlich änderte sich nicht viel. Mutter und ich führten weiterhin engagierte
und gefühlsbetonte Gespräche über die ganze traurige Situation. Doch der Tenor
änderte sich. Wir unterhielten uns nun zunehmend über die Befindlichkeiten
meiner Mutter, die meinen wurden immer unwichtiger. Sobald Mutter wieder
einmal an ihre Grenzen stieß, und das war nicht selten, da auch noch die Sorge
um ihren Mann auf ihr lastete (darüber, dass auch ihr eigenes Leben gefährdet
war, sprachen wir übrigens nie), nahm ich innerlich Haltung an. Ich versuchte
ihr ernsthaft weiszumachen, dass mir das alles nichts mehr ausmachte. Dass ich
gelernt hätte, damit klarzukommen. Dass sie sich über mich keine Gedanken
machen müsste. Ja, ich glaubte zwischendurch wohl sogar selbst daran.
Ob sie mir
aber geglaubt hat? Ich denke, nicht wirklich. Doch sie nahm mein Angebot an.
Bereits damals fühlte ich, was sie im tiefsten Kern bewegte und verwundete: die
Scham darüber, dass sie nicht stark genug war, uns Kinder vor all dem zu
bewahren. Der Schmerz war groß, doch darunter lag noch die Scham, versagt zu
haben. Meine Mutter war eine Gefangene. Das sah ich viel deutlicher noch als
meine eigene Gefangenschaft, und es gehörte zu meinem unbewussten Auftrag
innerhalb unseres Beziehungsmusters, ihre Not zu lindern und die meine zu
ertragen.
Verdrängung
sicherte
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