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Kohl, Walter

Kohl, Walter

Titel: Kohl, Walter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leben oder gelebt werden
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ist es wichtiger, dem Staat zu dienen, als mich auszutauschen. Ich bin
nicht wichtig, ich bin ersetzbar. Mein Verlust ist kein Verlust.
    Das war
für mich die Kernbotschaft dieses Gesprächs. Ich habe lange gebraucht, um mit
diesem Gefühl und dem damit verbundenen Zorn meinen inneren Frieden zu
schließen.
    Es sollte
nicht das einzige Gespräch nach diesem Muster bleiben. Da gab es ja noch jede
Menge Ausführungsbestimmungen zu den allgemeinen Regeln. Es folgte sogar eine
Art Training für mich, wie ich mich im Entführungsfall zu verhalten hätte.
Natürlich alles zu meinem eigenen Wohle.
    Mein
natürlicher Gesprächspartner, um die »praktischen Aspekte« einer möglichen
Entführung durchzudiskutieren, war Mutter. Wir sprachen darüber in einer Weise,
wie es zwei Menschen tun, die tief in der Falle sitzen. Wir spielten den
Ernstfall immer und immer wieder gedanklich durch, in allen nur erdenklichen
Variationen. Eines ihrer Anliegen war, dass ich in die Lebenszeichen, welche
mich die Geiselnehmer dann wohl senden lassen würden, verschlüsselte
Botschaften einbaute. Dazu verabredeten wir eine ganze Reihe von Codewörtern.
Wenn ich zum Beispiel meinen Lieblingslehrer grüßen ließ, sollte das heißen
»Es geht mir gut.« Der Name eines Ortes am Wolfgangsee dagegen verschlüsselte
die Botschaft »Ich weiß, wo ich bin.« Und so weiter und so weiter.
    Im Prinzip
verliefen unsere Gespräche in einer ruhigen und sachlichen Atmosphäre. Doch es
gab da eine unüberwindliche Grenze. Sobald ich mich mit ihr über den
kritischsten Punkt aussprechen wollte, nämlich ihre und Vaters Haltung zu
meinem eigenen Leben - oder besser: Überleben - im Falle einer Entführung, wich
sie aus. Jeder Versuch meinerseits, diesbezügliche Fragen zu stellen oder ihr
meine Gefühle zu offenbaren, scheiterte. Nicht dass sie mich schroff abgewiesen
hätte. Im Gegenteil, sie stellte sich jedem Gespräch in dem erkennbaren
Bemühen, mir gerecht zu werden und in meiner Not beizustehen. Doch über dieses
heikelste Thema von allen vermochte sie nicht offen zu sprechen. Sie konnte
einfach nicht mehr.
    Es passte
zu ihr, dass sie die Ursache für unsere Nöte in allererster Linie bei sich
selbst suchte. Ja, sie erhob auch Anklage gegen ihren Mann, der seine Familie
durch seinen politischen Ehrgeiz erst in diese Lage gebracht habe. Der nie da
sei, wenn man ihn wirklich einmal brauche. Und sie schimpfte über die
Unfähigkeit der Polizei, auf die Politik, die den Schlamassel nicht in den
Griff bekomme. Aber darunter lag noch etwas anderes: Sie erhob Anklage gegen
sich selbst. Sie haderte schwer mit sich, weil sie »es überhaupt hatte so weit
kommen lassen«. Ich verstand nicht recht, was sie damit meinte. Sie war doch
eher ein Opfer, genauso wie ich? Was ich aber am allerwenigsten verstand: Sie
schämte sich. Sie schämte sich förmlich in Grund und Boden. Warum nur? Es
verwirrte mich.
    Unsere
Gespräche begannen einem bestimmten Muster zu folgen. Ich brachte ein
»Sicherheitsproblem« zur Sprache oder wollte über meine Gefühle sprechen.
Nachdem sie es sich angehört hatte und wir ein paar Worte gewechselt hatten,
wurde das Gespräch wie unter einem inneren Zwang von meiner Person weg- und auf
die Probleme meiner Mutter hingelenkt. Immer tiefer wurde ihre Mutlosigkeit,
immer heftiger wurden ihre Selbstvorwürfe.
    Für mich
wurde das zunehmend zur Qual. Nicht nur deshalb, weil ich bei meiner
wichtigsten Bezugsperson immer weniger Rat und Trost finden konnte, sondern
darüber hinaus, weil ich deutlich erkannte, dass diese Diskussionen auch
meiner Mutter nicht nutzten. Sie bauten sie nicht auf, im Gegenteil, sie zogen
sie noch weiter herunter. Ich wartete darauf, dass sie unser gemeinsames
Problem Vater gegenüber zur Sprache bringen würde. Doch am Wochenende, wenn er
nach Hause kam, schwieg sie eisern. Sie brachte ihm gegenüber unsere Anliegen
einfach nicht auf den Punkt. Offenbar fehlte ihr dazu der Mut. Vater schien
unangreifbar, Mutter hatte keine Kraft - so kam es mir damals vor.
    Heute sehe
ich es doch etwas anders. Meine Eltern gehören zu einer Generation, die
hauptsächlich durch die Erfahrung des Krieges und das Chaos der unmittelbaren
Nachkriegszeit geprägt wurde. Meine Mutter litt zeit ihres Lebens darunter,
dass es ihr versagt blieb zu studieren. Als bettelarme Flüchtlingsfamilie
hatten sie nach 1945 alles verloren. Nach dem Abitur musste etwas gefunden
werden, womit man schnell den Lebensunterhalt verdienen konnte. Also brach
Mutter

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