Kohl, Walter
ihre Ausbildung auf der Sprachenschule ab, um eine Anstellung bei der
BASF anzutreten. Später erfolgten die Heirat und die Geburt der Kinder. Meine
Mutter stellte sich, wie viele Frauen ihrer Generation, komplett in den Dienst
von Mann und Familie. Sie hatte zu dienen, das war ihr Selbstverständnis.
Ihr ganzes
aktives Leben lang beschäftigten meine Eltern sich mit irgendeiner Form
konstruktiven Aufbaus. Erst der Aufbau und dann die Erhaltung dessen, was man
aufgebaut hatte - das war ihr Leben.
Sobald die Gefahr aufblitzte, etwas, das man unter persönlichen Opfern
errichtet und befestigt hatte, könnte eingerissen werden, schaltete meine
Mutter auf Verdrängung. So verzweifelt sie jetzt auch war, es gab da eine rote
Linie, die auf keinen Fall überschritten werden durfte. Sie hätte nie und
nimmer ihren Mann herausgefordert, ernsthaft über die Richtung nachzudenken,
die er seinem Leben gab. Ihn gar zu bewegen, beruflich kürzerzutreten, zum
Wohle seiner Familie. Für ihr Empfinden hätte sie damit alles infrage gestellt,
was sie und ihr Mann sich vorgenommen, dem sie alles andere untergeordnet und
was sie gemeinsam erreicht hatten. Mein Verstand war noch nicht in der Lage,
das zu erfassen, gefühlsmäßig aber begriff ich sehr wohl, dass wir alle uns
diesem Programm der Eheleute Helmut und Hannelore Kohl zu unterwerfen hatten.
Und warum
schämte sie sich? Auch dies ist mir klarer geworden, sobald ich begann, selbst
nicht mehr mit meinem Schicksal zu hadern, sondern mich damit auszusöhnen. Ich
brauchte nicht nur die zeitliche Distanz, sondern ich musste auch noch eine
ganze Menge eigenen seelischen Abraum beiseiteschaffen, um für mich selbst
aufzudecken, worin der ureigene Beitrag meiner Mutter dazu bestand, dass sich
die emotionale Situation zu Hause so zuspitzte.
Es war
ihre eigene innere Bereitschaft, sich zum Opfer machen zu lassen. Paradox am
Status des Opfers in einem Beziehungssystem ist, dass der Betreffende sich
einerseits als wehrloses Objekt äußerer Kräfte begreift, dass er andererseits
aber unbewusst davon ausgeht, dass er an der Entfesselung dieser Kräfte
Mitschuld trägt. So entsteht jenes widersprüchliche Verhalten, das mich an
meiner eigenen Mutter damals so sehr in Verwirrung stürzte. Einerseits
schimpfte, haderte und zeterte sie mit der Außenwelt und entließ sich damit
aus der Verantwortung, andererseits gab sie sich selbst die allermeiste
Schuld, und sie empfand große Scham.
Sie
spielte ihre Rolle perfekt, selbstverständlich auch und besonders vor sich
selbst. Irgendwann konnte sie immer weniger zwischen ihrer Rolle und ihren
Bedürfnissen unterscheiden. Ihre Rolle hatte die Führung über ihr Leben
übernommen. Aber in ihrem Mann hatte sie einen Komplementär gefunden, dessen
eigenes Charakterbild als absoluter Tatmensch sich perfekt zu dem ihren fügte.
Es war dies eine sehr spezielle Unverbrüchlichkeit. Dies war sehr hilfreich für
meinen Vater, denn sie lieferte den Rahmen für jenes Musterbild einer intakten
bürgerlichen Geborgenheit, das unsere Familie »für die Menschen draußen im
Lande«, um eine Redensart meines Vaters zu gebrauchen, abgab.
Meine
Mutter verlangte sich selbst ab, alles für die Sicherheit und Geborgenheit
ihrer Familie zu geben, und sie klagte sich dafür an, dass es ihr offenbar doch
nicht gelang, dafür zu sorgen. Und sie schämte sich wohl auch dafür, dass sie
unfähig war, ihrem Mann etwas entgegenzusetzen.
Und ich
selbst? Nachdem sich der erste Schock über die Offenbarung meines persönlichen
Stellenwerts in den Augen der Staatsorgane gelegt hatte, nachdem zudem die
Grenzen des mütterlichen Schutzes offen zutage lagen, stellte ich bald eine
innere Veränderung bei mir selbst fest. Da waren nun keine aufgewühlten Gefühle
mehr, keine rasenden Gedanken, sondern da war nur noch stumpfe, bleierne
Müdigkeit. Dumpfe Resignation legte sich auf mein Gemüt wie eine schwere, nasse
Decke.
Ich stand
innerlich mit dem Rücken zur Wand. Und es fühlte sich an, als ob ein
verborgener Zeitraffer anliefe, der mich ohne Zwischenschritte zu einem
Entwicklungssprung zwang. Ich musste unbedingt mit dieser neuen Lage
klarkommen, und meine Psyche war bereit, den Preis zu zahlen. Es entwickelte
sich ohne mein aktives Zutun eine neue Bewusstseinsqualität:
Verantwortungsgefühl. Weniger für mich selbst, ich fühlte mich nach wie vor wie
ohnmächtig, ausgeliefert. Sondern für einen anderen Menschen: für meine
Mutter. Ich lernte ein mir noch völlig unbekanntes
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