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Kohl, Walter

Kohl, Walter

Titel: Kohl, Walter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leben oder gelebt werden
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das Funktionieren meines Überlebenswillens. Wenn ich wirklich auf
mich selbst gesehen hätte, wäre ich wohl in einer Woge des Schmerzes
abgesoffen. Was ich bereits über das Alleinsein sagte, habe ich seinerzeit
erstmals in aller Konsequenz durchgemacht. Meine Mutter war mit sich selbst
beschäftigt. Mein Vater hatte keine Zeit und, ja, auch kein Interesse. Er war
froh, wenn er diesen Themen ausweichen konnte. Mein Bruder war zu klein, meine
Schulkameraden verstanden mich nicht, andere Erwachsene wichen dem Thema aus
oder hielten mich mit wohlmeinenden, aber unbrauchbaren Ratschlägen hin. Ich
selbst pushte mich immer wieder mit der Vorstellung, dass ich mich im Krieg
befände wie ein kämpfender Soldat.
    Aushalten.
Durchhalten. Maul halten.
    Wie ein
Fußsoldat, der mitzumarschieren hat, auf Gedeih und Verderb, in einer gänzlich
unbedeutenden Nebenrolle.
    Dieses Erlebnis
markiert rückblickend für mich eine Art Einschnitt: Ich arbeitete nun bereits
unbewusst an der kommenden Entwicklung mit. In meine Gedanken und Gefühle
nistete sich Resignation ein, gleichzeitig versuchte ich einen eisernen
Durchhaltewillen zu beweisen. Das psychische Konstrukt »Sohn vom Kohl« wurde
nun gleich von einer doppelten Klammer zusammengehalten: Von außen, wie bisher
schon, durch einen Stigmatisierungsprozess. Von innen, indem ich mich selbst
unwichtig machte, in jeder Beziehung ersetzbar. Ich brauchte nicht mehr in den
Schatten gestellt zu werden, ich machte mich selbst zunehmend zu einem
Schatten.
    Einige
Wochen später war die Wahl ganz knapp verloren, und in unserem Haus kehrte
langsam mehr Stille ein. Doch dieser Frieden erwies sich als trügerisch. Es war
die sich immer weiter verschlechternde Sicherheitslage, die unser Leben einem
zunehmenden äußeren Druck, Unruhe und ständigen Nervenproben aussetzte. Die
Sicherheitskrise trieb unaufhaltsam jenen dramatischen Ereignissen zu, die 1977
als »Deutscher Herbst« in die Geschichte eingingen. Vor diesem krisenhaften
politischen Hintergrund gesehen leuchtet es ein, dass im Hause des
Oppositionsführers im Bundestag, der in alle Entscheidungen des Krisenstabes
beim Bundeskanzler einbezogen wurde, weder Ruhe noch Frieden dauerhaft
einkehren konnten.
    In jenem
Jahr hatten die Terroristen bereits Generalbundesanwalt Siegfried Buback sowie
zwei seiner Begleiter auf offener Straße erschossen und den
Vorstandsvorsitzenden der Dresdner Bank, Jürgen Ponto, in seinem eigenen Haus
ermordet. Im September verschleppten sie Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin
Schleyer und töteten dabei seine drei Leibwächter und seinen Fahrer. Das Ziel
der Entführung Schleyers: die im Hochsicherheitsgefängnis von Stammheim einsitzende
erste Generation der RAF freizupressen. Die Bundesregierung jedoch ließ ihrer
Ankündigung, in jedem Fall hart zu bleiben, Taten folgen und ging darauf nicht
ein. Im Oktober dann überschlugen sich die Ereignisse. Als palästinensische
und deutsche Terroristen eine Lufthansa-Maschine mit 82 Passagieren und fünf
Besatzungsmitgliedern nach Somalia entführt und den Flugkapitän erschossen
hatten, um den Forderungen der RAF Nachdruck zu verleihen, ließ die
Bundesregierung die Maschine stürmen und die Geiseln befreien. Wenige Stunden
später begingen die drei Top-Terroristen Baader, Raspe und Ensslin Selbstmord.
Damit war auch das Schicksal Hanns-Martin Schleyers besiegelt. Er wurde
umgehend von seinen Entführern erschossen.
    Die Folge
war eine nochmalige Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen. Auch wir fühlten
uns als Gefangene. Es gab aber noch einen weiteren Grund, warum meine persönliche
Betroffenheit jetzt einen Grad erreichte, dass mir die Ereignisse buchstäblich
unter die Haut gingen. In jenem Sommer 1977 hatte ich Hanns-Martin Schleyer
persönlich kennengelernt, ganz zufällig. Die Begegnung hatte einen tiefen
Eindruck bei mir hinterlassen.
    Es waren
Sommerferien, und ich befand mich auf Kurzbesuch bei meinem Vater in Bonn. Als
ich in seinem Abgeordnetenbüro im Bundeshaus auf ihn wartete, führte die
Büroleiterin, Juliane Weber, für mich völlig unerwartet den Arbeitgeberpräsidenten
herein. Auch er wollte zu meinem Vater. So saßen wir uns denn am großen
Besprechungstisch gegenüber, ich wohl mit sehr großen Augen, da ich ihn aus dem
Fernsehen kannte, und Schleyer mit einem breiten Lächeln, womit er bei mir
schnell das Eis brach. Ich war angenehm überrascht, dass dieser Mann mich ganz
und gar ungezwungen, ja geradezu freundschaftlich behandelte. Hier

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