Kohl, Walter
die
Entspannung wird hier brüllend befohlen, und sofort werfen sich alle gehorsam
auf den Boden. Augen zu, Luft holen, Muskeln entspannen, Puls beruhigen, Ruhe.
Gott sei Dank. Doch nach wenigen Sekunden ein zweiter Befehl:
»Gefreiter Kohl, zu mir, aber zack, zack!«
Mir
schwant Übles. Ein Dejá-Vu der allerbittersten Art kündigt sich an: der »Sohn
vom Kohl« mit einer Extraeinlage? Ich rappele mich auf und melde mich beim Fähnrich.
Rundum Stille, der komplette Lehrgang verfolgt das Schauspiel mit gespannter
Aufmerksamkeit.
»Kohl ...«
- er dehnt die Stimme, wie um die Spannung noch zu erhöhen, und setzt ein
verschlagenes Grinsen auf. Die folgenden Worte, die er an mich richtet, spricht
er natürlich so laut, dass alle genau mitbekommen, was er von mir will.
»Kohl, du
bist doch Patriot, nicht wahr. Schließlich ist dein Vater ja der Bundeskanzler.
Also los, mach mal eine Ehrenrunde auf der Hindernisbahn für den
Bundeskanzler.«
Alle Augen
sind auf mich gerichtet. Die Kameraden wagen es nicht, auch nur einen Mucks von
sich zu geben. Die dem Fähnrich unterstellten Ausbilder geben dienstbeflissen
höhnisches Gelächter von sich.
»Los, Kohl, eine Ehrenrunde für den Bundeskanzler. Beweg
dich!«
Ich muss
ein ausgesprochen bedeppertes Gesicht gemacht haben. Was sagt denn der
Lehrgangsleiter dazu? Ich schaue zu dem jungen Leutnant hinüber, doch der
scheint sich königlich mit zu amüsieren.
«Los, auf
geht's!«, heißt es jetzt, mit unmissverständlicher Handbewegung.
Meine
Lehrgangskameraden schauen weg. Auch ihnen ist es peinlich. Ich stehe immer
noch wie angewurzelt da. Und wieder fällt jener Satz, der auf den ersten Blick
eine Selbstverständlichkeit ausdrückt, der aber in dieser Situation nur der
Ausdruck einer systematischen Entwürdigung ist.
»Befehl
ist Befehl, das gilt auch für den Sohn des Bundeskanzlers«, brüllt mir der
Fähnrich direkt ins Ohr.
Zorn und
Scham steigen in mir auf. Innerlich koche ich, trotz meiner körperlichen
Erschöpfung.
Ihr Säcke,
ihr verdammten Säcke! Vor euch werde ich mir keine Blöße geben!
Also los,
mit komplettem Sturmgepäck, MG und Munitionsgurten, so um die 25 Kilogramm
Gewicht. Schon die kurze Strecke bis zum Anfang der Bahn erscheint mir schier
endlos. Aber dann erst! Das MG 3 kracht beim Sprung von der Eskaladierwand ins
Kreuz, die Beine werden schwer und schwerer, die Lunge pfeift. Unter dem Johlen
und Grölen der Ausbilder quäle ich mich über den Parcours. Nur nicht aufgeben
jetzt! Das würde ich mir nie verzeihen! Endlich geschafft. Und jetzt? Ein
fröhlicher Sadist begrüßt mich:
»Na, Kohl,
da fehlt ja die Begeisterung! Wenn das dein Vater wüsste! Komm ... ihm zuliebe
- nochmals!«
Die zweite
Runde ist »fürs Vaterland«, wie ich den hämischen Anfeuerungsrufen meiner
Ausbilder entnehmen darf. In mir tobt ein Sturm der Empörung und Entrüstung,
aber noch stärker ist das Gefühl von Ohnmacht und Scham. Das Brennen meiner
Muskeln spüre ich schon gar nicht mehr. Und dann habe ich es zum zweiten Mal
geschafft. Wie ein nasser Sack plumpse ich auf den Boden. Alles dreht sich, in
meinen Ohren gellt es, ich japse nach Luft wie ein Ertrinkender, mir ist
speiübel. Als ich aufblicke, sehe ich die Schnürsenkel der Kampfstiefel des
Fähnrichs wenige Zentimeter vor meinem Gesicht.
Ich kotze
ihm vor die Füße.
Nachdem
alles raus ist, stehe ich langsam auf und fixiere den Mann aus kurzer
Entfernung. Er schaut zur Seite, auch ringsum ist auf einmal Betroffenheit zu
verspüren. Für einen Moment scheint die Situation zu kippen - wohin? Da nimmt
der Leutnant das Heft in die Hand. Er befiehlt anzutreten. Unter beklommenem
Schweigen bewegt sich der ganze müde Haufen endgültig in Richtung
Kompaniegebäude.
»Waffenreinigen
im Stehen«, auf dem Gang vor den Stuben, bildet den üblichen Abschluss des
Ausbildungstages. Doch heute ist nichts wie üblich für mich. Außer, dass die
Knochen schmerzen wie immer. Aber es spricht keiner mit mir. Der Wind hat sich
gedreht, er bläst mir ins Gesicht. Zwar tragen wir hier alle die gleiche
Uniform, tun alle das Gleiche, haben alle das gleiche Ziel. Doch jetzt steht
eine unsichtbare Wand zwischen mir und den Kameraden. Das kenne ich nur zu gut
- auf einmal ist alles anders geworden. Es ist ja nicht so, dass es Probleme
gegeben hätte zwischen uns. Es gab keinen Streit, keine Anfeindungen, keine
Häme. Es ist keine direkte Ablehnung meiner Person zu spüren. Es ist vielmehr
so, als sei ich, von einem Moment auf
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