Kohl, Walter
mich als Weichling hinstellen, der immer
nur mit goldenen Löffeln gegessen hätte. All das wäre ein weiterer Schritt auf
dem sicheren Weg zum Prädikat »Sohn vom Kohl« gewesen. Also hieß es, wieder
einmal das alte Hausmittel anzuwenden: Zähne zusammenbeißen, A... zukneifen,
Disziplin zeigen. Du musst stehen!
Dazu
gehörte auch, dass ich ganz auf mich gestellt klarkommen musste. Ich war jetzt
19 Jahre alt, wohnte zwar an den Wochenenden noch zu Hause, hatte aber doch
begonnen, mein eigenes Leben zu leben. Zudem steckten meine Eltern immer noch
in einer Phase, in der ihr eigener Stress immens war. Zwar lag der Wahlkampf
hinter ihnen, aber das Amt, das mein Vater nun bekleidete, verlangte beiden
eine tief greifende Umstellung des eigenen Lebens ab. Auf mich wirkten sie wie
Getriebene im Dienste einer Mission von übergeordneter Wichtigkeit, hinter der
alles andere zurückzutreten hatte. Der unausgesprochene Familienkonsens
lautete: Wir haben zu funktionieren. Und wenn alle das tun, dann auch ich.
Augen zu - und durch.
Irgendwann
war es dann geschafft. Ich legte einen guten Lehrgangsabschluss hin. Auch die
nächste Ausbildungsstufe, den Aufbaulehrgang zum Reserveoffiziersanwärter,
schloss ich erfolgreich ab. Anlässlich meiner Ernennung zum Fahnenjunker gab
es ein Abschlussgespräch bei meinem Kompaniechef, mit dem ich mich gut
verstand und den ich sehr schätzte. Es fiel recht kurz aus. Die entscheidenden
zwei Sätze habe ich noch sehr genau im Gedächtnis.
«Kohl, du
hast einen guten Lehrgang gemacht, du hast viel Potenzial, du wärst ein guter
Offizier, wenn du dich länger verpflichten würdest.«
Er machte
eine Pause und sah mich prüfend an. Offenbar erwartete er eine Antwort von mir,
nur wusste ich nicht so recht, was ich jetzt sagen sollte. Da ergriff er erneut
das Wort.
»Aber
irgendetwas stimmt nicht mit dir. Du bist so verschlossen und manchmal sogar
ein bisschen renitent. Woran liegt das?«
Meine
Antwort fiel lakonisch aus, damals eine meiner typischen Reaktionsweisen, wenn
ein bestimmter Punkt bei mir berührt wurde.
»Keine Ahnung.«
Der
Hauptmann schwieg. Ich schwieg. Ja, ich wäre eigentlich ganz gern Offizier
geworden, aber es soll wohl nicht sein. In einem solchen beruflichen Umfeld könnte
ich nicht frei leben, in einem solchen Umfeld würde ich nur gelebt werden, denn
ich könnte den Schatten meines Namens nie überwinden. Am Ende meiner
zweijährigen Dienstzeit, auf die ich mich von vornherein verpflichtet hatte,
wurde ich routinemäßig zum Leutnant der Reserve befördert.
Nach zwölf
Monaten Dienstzeit und kurz nach meiner Ernennung zum Fahnenjunker wurde ich
als Gruppenführer Vorgesetzter. Das war wieder eine ganz neue Erfahrung. Kurz
darauf erlitt mein Leutnant einen schweren Unfall. Zu meiner Überraschung
entschied sich der Kompaniechef für mich als kommissarischen Zugführer, bis
unser Leutnant wieder genesen war. Fast ein Jahr lang war ich für 15 Mann mit
Waffen, Gerät und drei Schützenpanzern verantwortlich. Beim Militär lernte ich
sehr schnell, dass Verantwortung für andere Menschen damit beginnt,
Verantwortung für sich selbst zu übernehmen.
Verantwortung
für andere zu tragen, sich für sie einzusetzen und ihnen den Rücken zu stärken,
das kannte ich vorher nicht. Ich war voll und ganz mit mir selbst beschäftigt
gewesen, es schien mir Herausforderung genug, möglichst unbeschadet
durchzukommen. Bei der Bundeswehr erhielt ich plötzlich die Aufgabe, andere
Menschen zu begleiten und sogar zu führen. Durch diese Verantwortung gewann ich
neues Selbstwertgefühl. Eines war jetzt allerdings auch klar: Eine normale
Offizierskarriere während der Kanzlerschaft Helmut Kohls wäre für mich nicht
möglich. Doch meine Zeit bei der Bundeswehr hat mir viel gegeben, ich hatte
dort Erfahrungen gemacht, die mir vordem verschlossen gewesen waren und die
mich auf meinem langen Weg zu mir selbst ein Stück weitergebracht hatten. Ich
hatte Menschen aus allen denkbaren sozialen Umfeldern kennengelernt, ich hatte
mich in harten Ausbildungsgängen bewiesen, ich hatte Unsicherheiten und Ängste
überwunden, ich hatte gelernt, Verantwortung zu übernehmen. Nun begann ich zu
verstehen, dass man sein Schicksal auch in Demut anzunehmen lernen sollte, ohne
dabei in Passivität zu verfallen. Dann würde alles, was das eigene Leben
belastet, viel leichter zu tragen, und alles Schöne, das man geschenkt erhält,
ohne innere Vorbehalte zu genießen sein. Am letzten Tag verließ ich daher
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