Kohl, Walter
US-Arbeitsvisum zu erhalten.
Ein unvergessliches Jahr
Im Herbst 1989, als die politische Situation im Ostblock
sich dramatisch zuspitzte, studierte ich Volkswirtschaft in Wien. Als im
September die ungarisch-österreichische Grenze geöffnet wurde, schwoll der
Strom der DDR-Flüchtlinge dort massiv an. Da Mauer und Stacheldraht ja immer
noch West- und Ostdeutschland trennten, wählten sie diesen Weg. Im Fernsehen
sah ich die Bilder Tausender von Menschen, die provisorisch in Lagern
untergebracht wurden, die Hilfsorganisationen errichtet hatten. Aus einem
spontanen Entschluss heraus setzte ich mich ins Auto und fuhr nach Nickelsdorf
im Burgenland.
Die
Zeltstadt befand sich auf einer großen Wiese unweit der Straße zum
Grenzübergang. Ich parkte den Wagen etwas abseits und legte den restlichen Weg
zu Fuß zurück. Je näher ich kam, umso mehr war die Luft mit dem
charakteristischen Duft der Abgase von Zweitaktmotoren geschwängert. Ich bahnte
mir meinen Weg an einer langen Schlange von bis unters Dach vollbepackten
Trabis und Wartburgs vorbei, deren Insassen freudig erregt, aber offenbar mit
unendlicher Geduld auf Einlass warteten. Im Lager selbst herrschte ein
wuseliges Treiben wie in einem Ameisenhaufen. An zentralem Ort waren Tische
aufgebaut, wo offenbar irgendwelche Registrierungen vorgenommen wurden. Davor
drängelten sich die Menschen, darunter viele junge Familien mit kleinen
Kindern.
Andere
schienen sich nicht im Mindesten um solche Formalien zu kümmern. Gerade erst
angekommen, wurden sie von Freunden mit großem Hallo in Empfang genommen und
machten sich offenbar sogleich zusammen wieder auf den Weg - vermutlich in
Richtung Deutschland. Über allem lag eine seltsam kribbelige Atmosphäre: eine
Mischung aus Hochstimmung und Erschöpfung, Erleichterung und Nervosität. In dem
ganzen hektischen Gewimmel wurde wenig gesprochen, ein jeder schien mit sich
selbst beschäftigt zu sein. An mehreren Stellen waren Info-Tafeln errichtet, wo
man Botschaften hinterlassen konnte. Ich war überrascht, wie viele Schlüssel
mit Zetteln daran dort hingen. Ich studierte diese Botschaften eingehend und
war überrascht, dass sie alle mehr oder weniger gleich lauteten:
»Schlüssel
für meine Wohnung in der Soundso-Straße in Soundso. Ich gehe jetzt in ein neues
Leben und kehre nie wieder zurück. Nehmt euch den Schlüssel und holt euch, was
ihr gebrauchen könnt. Mein altes Leben ist vorbei.«
Ich
brauchte nicht lange zu suchen, da hatte ich eines dieser persönlichen
Vermächtnisse mit einer Leipziger Adresse gefunden. Mir lief es kalt den
Rücken herunter. Ich berührte diesen Schlüssel, den Zettel, mit meiner eigenen
Hand und sann über die Menschen nach, die beides hier hinterlassen hatten. Wie
mochten sie sich dabei gefühlt haben? Auch dachte ich an meine Mutter, die aus
derselben Stadt im Zweiten Weltkrieg unter gänzlich anderen Umständen
ebenfalls geflohen war. Wie oft hatte sie mir davon erzählt. Nun stand ich
hier, fast ein halbes Jahrhundert später, vor mir ein Schlüssel und ein
Zettel, als beredte Zeugnisse eines ebensolchen »Point of no Return«, aber in
einem Menschenleben, das mir völlig unbekannt war. In einem solchen Moment
fühlt man mit sonst ungekannter Intensität, wie tief unser eigenes kleines
Leben in die großen weltgeschichtlichen Entwicklungen eingebettet ist und wie
sehr unsere Entscheidungen über die eigene Zukunft doch davon abhängen.
In den
folgenden Monaten wurde Deutschland zum Epizentrum eines politischen
Erdbebens, das niemand erwartet hatte und das auch die Regierungen der
Großmächte nicht unter Kontrolle bekommen konnten, weil es von der Volksmacht
im eigentlichen Sinne des Wortes ausging. Doch gab es in den Leitstellen der
Weltpolitik handelnde Personen, denen es gelang, das Unvermeidliche immerhin
so weit zu strukturieren, dass es nicht zum befürchteten Ausbruch von Gewalthandlungen
zwischen den Militärblöcken kam, und darüber hinaus die weitere Entwicklung in
ruhigere Bahnen zu lenken. Eine dieser Personen war mein Vater. Ich schätze
mich glücklich, dass ich während dieser Zeit viel in seiner Nähe sein durfte.
Das eröffnete mir nicht nur manche Möglichkeit, den »Anhauch der Geschichte«
bisweilen sehr direkt zu erfahren, sondern vor allem brachte es uns beide auf
eine ganz besondere Art und Weise näher zueinander.
Noch im
September hing seine politische Zukunft am seidenen Faden. Der CDU-Parteitag
in Bremen stand unmittelbar bevor, und Putschgerüchte
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