Kohl, Walter
weil dieses zusammenzubrechen drohte und man
langsam um das Wohl meines Vaters fürchten musste. Jeder wollte ihn berühren,
die Menschen umarmten und küssten ihn, fielen ihm tränenüberströmt um den Hals.
Kleine Kinder wurden ihm entgegengehalten, als ob er sie segnen sollte. Ich
stand immer noch direkt bei ihm und hakte mich bei den BKA-Leuten mit ein, die
jetzt einen Ring um ihn zu bilden begannen. Immer mehr Menschen drückten nach,
die Masse staute sich wie in einem Kessel im Halbrund der Mauer. Der enge
Durchlass war von Westberlinern verstopft, die nach Osten drängten, die
Ostberliner drängten nach Westen, so langsam wurde es wirklich gefährlich.
Plötzlich
hieß es: Wir sollten uns in Richtung Brandenburger Tor vorarbeiten, dort würde
eine Tür zu einem Raum an der Seite für uns geöffnet. Ich arbeitete im Kordon
der BKA-Männer mit daran, meinen Vater dorthin zu bugsieren. Wir waren schon
ein gutes Stück vorangekommen, diagonal durch die ausgelassen jubelnden
Menschen, die nach Westen strömten, als jemand hartnäckig an meinem Ärmel
zerrte.
«Komm Kolleesche, helf uns mol, häng disch ein!«
Da flehte
mich doch ein kräftiger Mann in betont unauffälliger Kleidung in näselndem
Sächsisch an. Erst begriff ich nicht, doch dann wurde mir klar, dass es einer
von der Stasi-Sicherungsgruppe des DDR-Ministerpräsidenten war. Ihre
Schutzperson hatte in der Tat großen Sicherungsbedarf. Hans Modrow war in einer
misslichen Lage. Nicht nur, dass er lautstark beschimpft wurde, er wurde auch
noch mit Handtaschen, Regenschirmen und mit bloßen Händen körperlich
bearbeitet. Seine Sicherheitsleute waren dem nicht mehr gewachsen. In ihrer
Not rekrutierten sie BKA-Leute aus der Entourage meines Vaters. Da ich Teil der
Kette um ihn war, hielt der Stasi-Mann mich für einen Kollegen vom BKA. Nach einem
Moment der Verblüffung musste ich schallend lachen. Warum sollte ich dem Mann,
der sowieso politisch am Ende war, nicht aus einer menschlichen Kalamität
helfen?
Es sollte
mir schlecht bekommen. Zum Wohle Hans Modrows bezog ich so manchen blauen
Fleck, bis er nach sicher 20 Minuten endlich der Wut der Menschen entzogen war.
Mein Vater hatte schon nach mir gesucht und sich Sorgen um meinen Verbleib
gemacht. Ich erlaubte mir den Scherz, mich bei ihm vom »Sondereinsatz Modrow«
militärisch zurückzumelden. Wir fielen uns erleichtert in die Arme. Die
Stasi-Leute standen direkt daneben und gaben ihrer Fassungslosigkeit darüber
Ausdruck, dass ausgerechnet der »Sohn vom Kohl« ihnen mit aus der Patsche
geholfen hatte. Ein zerzauster, desorientierter, irgendwie schon jetzt
abgehalftert wirkender DDR-Ministerpräsident sagte gar nichts mehr. Stunden
später erreichten wir wieder den Reichstag. Mein Vater war völlig ausgepumpt,
zugleich aber selig. Die Öffnung des Tores war ein Signal, das um die Welt
ging. Das Volk, der oberste Souverän, hatte selbst entschieden. Jetzt gab es
kein Zurück mehr.
Solche
Erlebnisse brachten Vater und mich zusammen. Es erfüllte mich mit Freude und
Genugtuung, wie sich unser Verhältnis entwickelte. Ich fühlte mich erstmals von
ihm als erwachsener Gesprächspartner ernst genommen. Wir machten lange
Spaziergänge, auf denen er einfach laut dachte und mich als Diskussionspartner
suchte. Er hörte mir geduldig zu, fragte mich nach meiner Meinung. Das war neu.
Es schien ihm gutzutun, dass ich mich um ihn bemühte. Er würdigte auch mein
Bemühen, die im Studium erworbenen Kenntnisse der Geschichte und
Volkswirtschaft in unsere Gespräche einzubringen.
»Du
studierst doch Volkswirtschaft, was würden denn deine Professoren dazu sagen?
Und was denkst du selber?«
So eine
Frage überraschte mich, ich war es ja überhaupt nicht gewohnt, dass er mich um
einen Beitrag zu politischen Problemen bat, die er zu lösen hatte. Und dann
noch zu so wichtigen - schließlich diskutierten wir gerade das Für und Wider
einer Währungsunion. Ich fühlte deutlich, wie er und seine Berater »schwammen«.
Alle Entscheidungsträger wurden von der Entwicklung förmlich überrollt, und
sie taten sich verständlicherweise schwer damit. Er hatte Entscheidungen wie
am Fließband zu treffen, um gegenüber der Dynamik der Ereignisse nicht völlig
ins Hintertreffen zu geraten. Es galt, einen Hochseilakt zwischen einer fast
totalen Unkenntnis über den wahren wirtschaftlichen Zustand der DDR einerseits
und den oft überhöhten Erwartungen mancher Ostdeutschen auf sofortigen
Wohlstand andererseits zu vollbringen. Ich
Weitere Kostenlose Bücher