Kohl, Walter
soll
Walter werden?
Das würde
sich ergeben, dachte ich. Jetzt erst mal studieren, möglichst im Land meiner
Träume. Doch tiefer lag eine andere Frage: Was macht
Walter eigentlich glücklich'!
Ich
stellte sie mir nicht, denn ich schätzte mich glücklich, dass meine Mutter
etwas durchgesetzt hatte, was ich für die Erfüllung meines größten Wunsches
hielt. Auch wusste ich damals noch nicht wirklich, was eigentlich Glück für
mich sein könnte, denn ich definierte »Glück« negativ: als Nichteintreten
unerwünschter Ereignisse, als Abwesenheit von Zwängen. Ich hatte nur eine
Negativliste persönlicher Glückszustände, aber keine Positivliste.
Es gab
aber eine weitere, tiefer liegende Frage:
Wer ist er
eigentlich, dieser Walter?
Aber diese
Frage stellte ich mir erst viel, viel später, dann aber mit aller Konsequenz.
Innerlich frei zu werden heißt nicht zuletzt, die Fesseln abzustreifen, die das
System Familie dir angelegt hat. Erst dann bist du bereit für dein eigenes Leben,
und erst dann kann auch die Liebe zu deinen Eltern wirklich frei fließen.
Mir stellte sich im Frühjahr 1983 meine Situation als Schwarz-Weiß-Bild
dar, und daraus folgte eine einfache Entscheidung des Entweder-Oder.
Als Kind aus
einer solchen Familie hast du nur zwei Möglichkeiten: entweder die Rolle des
Sohns rückhaltlos anzunehmen - oder ein für alle Mal aus dem Feld zu gehen.
Was einem
jungen Menschen am wertvollsten ist, zeigt sich oft an Kleinigkeiten, an
Symbolen, die für etwas Verborgenes stehen, das ihn vom persönlichen
Hintergrund her lenkt. Man hat sich ja noch nicht die Ausdrucksmöglichkeiten erarbeitet,
um sein Leben nach eigenem Gusto einzurichten. Damals warb eine bekannte
Zigarettenmarke mit einem Aufkleber, auf dem nur drei Worte standen:
Ich bin
ich.
Ich trug
diesen Sticker auf meiner Schultasche. Er prangte gut sichtbar in meinem
Jugendzimmer und auf meinem ersten Auto, einer uralten Berlinetta. Wo immer ich war, da begleitete mich sein Mantra.
Ich bin
ich.
Noch war
das nicht mehr als ein fernes Ziel. Doch der Wunsch, endgültig und
unwiderruflich meinen eigenen Weg zu gehen, hatte von meinem Herzen Besitz
ergriffen. So nahm ich all meinen Mut zusammen und bewarb mich am Harvard
College. Mir war bewusst, was für einen Kraftakt es bedeuten würde, den
Zulassungstest zu bestehen. Aber ich fand eine auf College-Zulassungen
spezialisierte Lehrerin an der American High School in Heidelberg, die mich
innerhalb von drei Monaten in einem Crashkurs fit machte. Als ich auch die
schriftliche Ausleserunde erfolgreich überstanden hatte, kam der große Moment.
Ich flog nach Cambridge, Massachusetts, zum letzten Teil des Aufnahme
Verfahrens, dem persönlichen Vorstellungsgespräch.
«Listen,
we don't want another big name. We want you. But only, if you're good enough.«
Das waren
die Worte, mit denen ich empfangen wurde. Würde man für mich etwa die Latte
noch höher legen als für andere Bewerber? Na gut, aber ich fühlte die Chance.
Es war genau das, was ich im tiefsten Innern hören wollte.
Sie
wollten hier keinen »Sohn vom Kohl«, sondern einfach nur einen qualifizierten,
überzeugenden Walter Kohl.
Meine
Nervosität verflog. Ich fühlte mich plötzlich befreit - obwohl ich wusste: Wenn
ich jetzt nicht überzeugte, würde diese Tür für immer verschlossen bleiben.
Und es
ging ohne Umschweife zur Sache. Schnell schossen sich die beiden Prüfer mit
präzisen Fragen auf mich ein. Teil der schriftlichen Bewerbung war ein freier
Aufsatz über ein Buch gewesen, das für den Bewerber »wichtig« war. Ich hatte
»Die Brücke von Arnheim« von Cornelius Ryan gewählt, in dem die gescheiterte
Luftlandeoperation der Amerikaner, Briten und Polen in den Niederlanden vom
September 1944 geschildert wird. Nun sollte ich begründen, warum ich mir gerade
dieses Buch ausgesucht hatte und welche konkrete Bedeutung es für mich hatte.
Man fand diese Wahl wohl etwas ungewöhnlich.
Kommt da
ein Deutscher, und ausgerechnet das Scheitern einer unserer Operationen im
Zweiten Weltkrieg ist sein Lieblingsthema.
Ob sie das
wirklich gedacht haben, weiß ich nicht. Ich antizipierte es. Und antwortete,
dass ich zwei Jahre in einer Jägereinheit der Bundeswehr gedient und schon während
meiner Schulzeit militärgeschichtliche Bücher gelesen hatte.
Wie das
Leben so spielt: Es stellte sich heraus, dass einer der beiden Interviewer
gerade an seiner Habilitationsschrift arbeitete, die einen soziologischen
Vergleich von Wehrpflicht- und
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