Kohl, Walter
Kein
Wunder, dass wir praktisch alle mit einem massiv schlechten Gewissen wegen der
Verbrechen der Generation unserer Großväter herumliefen. Als ich mich in einem
zeitgeschichtlichen Seminar am Harvard College in der typischen Manier
vorauseilender Apologetik über die delikate Beziehung der Deutschen zu ihrer
jüngeren Vergangenheit äußerte, rief ich sowohl beim Dozenten als auch bei
meinen Kommilitonen spürbares Befremden hervor. Dies nicht etwa, weil es an
kritischem Urteilsvermögen gegenüber der jüngeren deutschen Geschichte gefehlt
hätte, sondern weil man dort klar und unmissverständlich eine Trennlinie
zwischen der NS-Zeit und der jungen deutschen Demokratie zog. So änderte sich
auch mein eigenes Deutschlandbild.
Auch war
ich überrascht, dass in Harvard nicht etwa nur Kinder aus wohlhabenden Familien
studierten. Ganz im Gegenteil. In meiner Wohngruppe beispielsweise lebten fünf
von acht Studenten ganz oder teilweise von einem Stipendium. Einer meiner
Roommates im Studentenwohnheim kam aus einem Indianerreservat aus Wisconsin.
Mit ihm habe ich nächtelang diskutiert, denn dabei wurden gleich zwei meiner
Interessen angesprochen: das für Geschichte und das für ungewöhnliche
Familienschicksale. Mikes Familie zählte sechs Köpfe und lebte von weniger als
15 000 Dollar im Jahr. Seine eigenen Urgroßeltern waren von der US Army aus den
angestammten Siedlungsgebieten ihres Volkes vertrieben worden. Was er vom
Leben im Reservat zu erzählen hatte, von der Not und Perspektivlosigkeit der
Menschen dort, ihrer Flucht in den Alkohol und von den Kriminalitätsproblemen,
das ging mir unter die Haut.
Ein
anderer Roommate war mit seiner Familie aus dem vom Bürgerkrieg heimgesuchten
Haiti geflohen. Sie lebten jetzt in Brooklyn, genauer in Fiatbush Heights, das
seinerzeit von Kriminalität förmlich zerfressen war, sodass die amerikanische
Post dort nicht einmal mehr Briefe zustellte. Er hatte sich sein Stipendium mit
seinem außergewöhnlichen Mathematik- und Schachtalent erarbeitet.
Zu einem
anderen Zimmernachbarn hatte ich ein besonderes freundschaftliches Verhältnis.
Dans Vater, ein Professor, war der einzige Überlebende einer jüdischen
Großfamilie aus Polen. Alle anderen waren in Auschwitz ermordet worden. Dieser
Mann hasste Deutschland. Nun lebte sein Sohn mit einem Deutschen Tür an Tür,
und der war auch noch der Sohn des Bundeskanzlers. Oft sprachen Dan und ich
über den Krieg, den Holocaust, aber auch darüber, dass mein Vater mit Präsident
Reagan auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg gewesen war, auf dem auch SS-Leute
neben Wehrmachtssoldaten liegen. Durch Dan lernte ich viele jüdische
Kommilitonen kennen, und nach einer kurzen Phase beiderseitiger Unsicherheit
war das Eis schnell gebrochen. Dan war es ein Anliegen, mich mit seinem Vater
zusammenzubringen. So kam es zur Einladung in dessen Haus bei Boston. Dieser
Mann hatte über vierzig Jahre lang nicht mit einem Deutschen gesprochen. Wir
aßen und tranken miteinander, und er erzählte mir auf sehr bewegende Weise von
seiner Flucht aus dem Lager und wie es ihm gelang, mit der Hilfe einer
Untergrundorganisation nach Schweden zu fliehen. Noch als Jugendlicher fing er
in Amerika noch einmal ganz neu an. Es war ein denkwürdiger Abend. Zum Abschied
begleitete der alte Mann mich an die Tür, schüttelte meine Hand sehr herzlich
und sagte mit belegter Stimme:
«Walter, thank you, you are always welcome in my house.«
Es war das
Eintauchen in eine ganz andere Welt für mich, und endlich der Eintritt in ein
unbeschwertes Leben, wie es schien. Einfach eine herrliche Zeit. Zu guter Letzt
hatte ich den Bachelor-Abschluss in beiden Hauptfächern in der Tasche. Was
immer ich beruflich damit machen würde, eines schien schon jetzt klar: In
Zukunft sollten die USA meine Heimat sein. Ich wollte all das, was mir in
Deutschland den Alltag verhagelte, ein für alle Mal hinter mir lassen. Doch
dazu bedurfte es eines Zwischenschritts.
Im Kopf
hatte ich eine klare Planung: im September 1989 nach Wien zu gehen, dort ein
Jahr zu studieren, um mit einem Abschluss als Diplomvolkswirt möglichst
optimale Aussichten für einen Start ins Berufsleben zu erwerben. Im Herzen
bestand unverändert der Wunsch, in die USA auszuwandern.
Um mein
Auswanderungsvorhaben zu verwirklichen, wollte ich alles daransetzen, schon
meine erste Arbeitstelle in New York anzutreten, am liebsten bei einer der
großen Investmentbanken, denn in dieser Branche war es am einfachsten, das
begehrte
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