Kohl, Walter
machten die Runde. Doch
die Art und Weise, wie selbst ein gesundheitlich angeschlagener Helmut Kohl
die epochemachenden Entwicklungen der nächsten Monate meisterte, machte ihn
binnen kurzer Zeit vom innerparteilichen Problemfall zum umjubelten »Kanzler
der Einheit«. Wieder einmal hatte er sich als politisches Stehaufmännchen
erwiesen.
Es ging
ihm im Sommer und Herbst 1989 gesundheitlich überhaupt nicht gut. Eine lange
aufgeschobene große Operation war unumgänglich geworden. Er lag lange in der
Uniklinik Mainz. Da ich selbst den Sommer in Oggersheim verbrachte, konnte
ich ihn oft besuchen. Mein Vater war zum ersten Mal, seit ich ihn kannte,
richtig krank. Er musste große Schmerzen ertragen. Aber nie zuvor hatten wir so
viel Zeit miteinander verbracht. Wir führten lange und intensive Gespräche,
und ich machte mir große Hoffnung, dass wir sogar dauerhaft einen guten Zugang
zueinander finden würden.
Natürlich
sprachen wir auch viel über Politik, und nicht nur im allgemeinen, sondern auch
im ganz persönlichen Sinn. Er machte sich Gedanken, ob er mit der Politik
weitermachen und wie es mit seinem Leben überhaupt weitergehen sollte. Es
waren dies die Wochen unmittelbar vor dem Bremer Parteitag, und er durfte trotz
seiner kritischen gesundheitlichen Verfassung keinerlei Schonung seitens
seiner Gegner erwarten. Im Gegenteil, mir kam es so vor, als wenn es jetzt erst
recht zur Sache ginge, weil man ihn geschwächt wähnte. So geht es zu in der
Politik.
In Zeiten
wie diesen rückte unsere Familie stets näher zusammen. Auch ich fühlte mich
betroffen und suchte meinen Vater nach Kräften moralisch zu unterstützen. Doch
war es selbst für mich, der ich seine Widerstandsfähigkeit, seine Nehmerqualitäten
und seine Zähigkeit zur Genüge erlebt hatte, einfach erstaunlich, wie rasch er
wieder zu dem Menschen wurde, als den jeder ihn kannte.
Auf dem
Parteitag quälte er sich durch die endlosen Sitzungen, aber auf dem Podium und
als Redner ließ er sich nichts anmerken. Wie er die sensationelle Grenzöffnung
der Ungarn am Vorabend des Parteitags für sich zu nutzen verstand, um die
Stimmung in der Partei zu drehen und seiner eigenen Politik die Zustimmung zu
sichern, war ein Meisterstück, das allen zeigte: Mit diesem Mann wird noch
lange zu rechnen sein. Im Hintergrund aber war ein Ärzteteam in Bereitschaft,
denn die Folgen der Operation waren noch lange nicht überwunden. Eigentlich
hätte er noch im Krankenhaus liegen müssen. So lebte er selbst das Motto,
welches er mir als Kind ins Stammbuch geschrieben hatte: Du musst stehen.
Dafür habe
ich ihn damals sehr bewundert.
Bis zum
Sommer 1990 weilte ich viel in Oggersheim, und wenn ich so zurückblicke, dann
war es vielleicht meine schönste Zeit dort überhaupt. Kurz vor Weihnachten
begleitete ich meinen Vater zu einem unvergesslichen Ereignis, der offiziellen
Feier anlässlich der Wiedereröffnung des Brandenburger Tores. Wir flogen
gemeinsam nach Berlin. Die bundesdeutsche Delegation, ein paar Dutzend Köpfe,
versammelte sich im Reichstag. Von dort sind es nur wenige Meter bis zum
Brandenburger Tor, aber heute würde es das erste Mal seit fast vier Jahrzehnten
sein, dass dieser geschichtsträchtige Weg wieder beschritten wurde, denn hier
verlief seit 1961 die Berliner Mauer. Ich durfte dabei sein. Schon die Straße
des 17. Juni, die von Westen in Richtung Tor verläuft, säumten Zehntausende. Es
herrschte Festtagsstimmung. Die Menschen sangen, sie schwenkten Fahnen, und
immer wieder erscholl der Ruf »Tor auf! Tor auf!«
Die
DDR-Grenzer hatten einige Segmente der Mauer abgebaut, eine allererste
Schneise von vielleicht drei oder vier Metern Breite in einem vorher fast
unüberwindlichen Wall war entstanden. Als wir die letzten salutierenden
Westberliner Polizisten hinter uns gelassen hatten, genau an diesem Punkt
kippte die fröhliche Stimmung in unserer Delegation. Es war, als wenn man eine
rote Linie überträte. Vor uns lag der sogenannte Todesstreifen, jene streng
bewachte Zone, in der im Lauf der Zeit viele Menschen ermordet worden waren. Beklemmung
und Nervosität ergriffen auch mich, plötzlich musste ich an die Diskussionen im
Vorfeld denken und dass niemand wirklich die Frage beantworten konnte, ob trotz
aller politischer Garantien nicht doch irgendein Posten die Nerven verlieren
würde, falls es zu Übergriffen aus der Bevölkerung gegen die »Grenzorgane der
DDR« kommen sollte. Für eine kurze Zeit hatte wohl nicht nur ich das Gefühl,
dass man
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