Kohl, Walter
hier letztlich irgendwie ausgeliefert war, denn außer den
Sicherheitsleuten der anwesenden westdeutschen Politiker waren hier
ausschließlich Polizeikräfte eines immer noch »feindlichen« Staates zugegen.
Doch da
standen wir schon auf dem Platz unmittelbar vor dem Tor, keine 30 Meter von den
Säulen entfernt. Man konnte es an den Gesichtern erkennen, wie bewegt alle
waren. Ich konnte es kaum glauben, aber in den Augen so manches hartgesottenen
Polit-Profis sah ich Tränen der Rührung. Doch die Dramaturgie des Tages ließ
keinen Raum für leise Gefühle. In schneidig-militärischem Ton begrüßte ein
hoher Offizier der Grenztruppen den »Herrn Bundeskanzler der BRD« und ließ
seine Leute zackig salutieren. Wenige Augenblicke später schon schüttelte der
DDR-Ministerpräsident Hans Modrow meinem Vater die Hand. Ich kann nicht sagen,
dass es einer freundlich-entspannten Begegnung auch nur nahe kam. Die üblichen
Höflichkeiten wurden ausgetauscht, aber das Lächeln blieb frostig. Gespannte
Erwartung lag in der Luft.
Kurz
darauf waren beide Delegationen unter den Säulen des Brandenburger Tores
angelangt. Zum ersten Mal in meinem Leben stand ich hier. Ich streckte
verstohlen den Arm aus und legte die Hand auf den Stein. Er war kühl und feucht
- ja, dies war kein Traum, dies war die Realität. In meinem Hals steckte ein
dicker Kloß, unser Tross zog weiter, und wie in Trance zog ich mit. Schon waren
wir an unserem Ziel angelangt, mitten auf dem Pariser Platz. Dort stand ein
hölzernes Rednerpodium, offenbar schnell zusammengezimmert für diesen einzigen
Zweck, etwa hüfthoch und mit einer Grundfläche von vielleicht fünf auf fünf
Metern.
Wir
stiegen auf dieses Podium, und ich ergatterte einen Platz direkt hinter meinem
Vater, der mit ganz vorn stand. Was ich jetzt sah, verschlug mir den Atem. Von
unserem erhöhten Standpunkt aus konnte man weit nach Ostberlin hineinblicken,
entlang des breiten Boulevards Unter den Linden. Die ersten hundert Meter
waren abgesperrt worden, doch dahinter drängten sich Massen von Menschen, so
weit das Auge reichte. Niemand hatte sie gerufen, niemand hatte sie
herbestellt, aber sie waren doch gekommen, um zu Zeugen eines historischen
Ereignisses zu werden. Es waren Hunderttausende, eine schier überwältigende
Größenordnung. Eine geradezu Ehrfurcht gebietende Kraft wurde fühlbar.
Mein Vater
schaute mich über die Schulter an, aber er sagte nichts. Er nickte nur kurz.
Sekunden
später erkannten ihn die Menschen, die direkt hinter der Absperrung standen.
Freudige Rufe der Begrüßung wurden laut, steigerten sich zu lautem Jubel, und
dann rollte ein unbeschreiblicher Schrei der Freude und Erleichterung die ganze
lange Straße hinauf. In diesem Moment fühlte ich es, und alle, die mit dabei
gewesen sind, werden Ähnliches gedacht haben:
Das war's
mit der Teilung Deutschlands. Was auch immer passiert, wie auch immer es
geschehen wird - das war's mit der Teilung!
In der
Vorbereitung war vereinbart worden, dass insgesamt vier Reden von jeweils zwei
Minuten gehalten werden würden. Zuerst sollten die Bürgermeister von Ost- und
Westberlin sprechen, danach Ministerpräsident Modrow und als letzter mein
Vater. Programmgemäß wurden die Reden der beiden Bürgermeister gehalten. Ich
erinnere mich an kein Wort, obwohl ich direkt daneben stand. Die Emotion des
Augenblickes war einfach zu überwältigend. Danach sprach Modrow, doch kaum
jemand schien zuzuhören, die Menge blieb passiv, nur einzelne Pfiffe wurden
laut. Dann trat mein Vater ans Mikrofon. Ich glaube, er hatte keine 20 Worte
gesprochen, da erhob sich ein gewaltiger Lärm und schwoll an zu einer Art
Urschrei aus unzähligen Kehlen, sodass man nichts, aber auch gar nichts anderes
mehr hören konnte. Und dann setzte sich die Masse in Bewegung, eine einzige
Flutwelle Mensch, die von Ost nach West drängte ...
Es war die
Entfesselung einer geradezu biblischen Gewalt. In kürzester Zeit wurden die
Absperrungen einfach weggespült. Und schon erreichten die ersten Menschen aus
dem Osten das Podium. Nach wenigen Minuten umringten es Tausende. Sie sangen,
lachten, weinten - und bestiegen schließlich das Gestell. Der Bundeskanzler
wurde geherzt, gedrückt, umjubelt. Da schien es im wahrsten Sinne des Wortes
keine Grenze mehr zu geben. Es war ein ergreifender und ekstatischer, aber
auch ein irgendwie banger Moment.
Nach ein
paar Minuten griffen die Sicherheitsleute ins Geschehen ein. Wir sollten alle
schnell von dem Podium herunter,
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