Kohl, Walter
Berufsarmeen zum Inhalt hatte. Dazu hatte er
auch die Bundeswehr im Detail studiert und sogar einige Bundeswehrstandorte
besucht.
Ich nahm
die Steilvorlage nur zu gern an und stellte einige Thesen zur Diskussion. Das
war nicht ohne Chuzpe, aber offenbar waren meine Prüfer ganz einverstanden
damit, dass ich die Initiative ergriff, ohne dass sie mich bitten mussten. Es
war möglicherweise genau das, was sie aus mir herauskitzeln wollten. Und
glücklicherweise bot sich hier ein Thema an, in dem ich mich zu Hause fühlte.
Hier saß ich also, in einem Vorstellungsgespräch von vitaler Bedeutung für
meine Zukunft, und führte mit einem Experten zum Thema ein lebhaftes
Fachgespräch. Ob die anderen Mitglieder des Gremiums sich währenddessen einfach
nur entspannten oder ob sie sich langweilten, interessierte mich nicht. Es war
faszinierend, mit einem so kompetenten Mann geradezu auf Augenhöhe diskutieren
zu können. Und ich war gottfroh, frei von der Leber weg reden zu können, und
dass dies alles andere als ein zähes, von Schweißausbrüchen begleitetes
Prüfungsgespräch war.
Irgendwann
war Schluss. Ich blickte mich um und sah ein breites amerikanisches Grinsen in
den Gesichtern meiner Prüfer.
»Not bad,
you will hear from us«, beschied mich der Vorsitzende knapp.
Wenige Wochen
später hielt ich meine Zulassung fürs Harvard College in Händen. Ich war
überglücklich. Es war mir ein Bedürfnis, zum Speyerer Dom zu fahren. Dort
befindet sich einer meiner wichtigsten Kraftplätze. Ich schickte ein inniges
Dankgebet zum Himmel hinauf. Und die folgende Nacht wurde mit der »Mannschaft«
durchgefeiert!
Vier Jahre
studierte ich in Harvard Geschichte und Volkswirtschaft. Trotz des bisweilen
extremen Leistungsdrucks war es für mich doch eine Zeit großer Freude, vieler
neuer Bekanntschaften und des persönlichen Friedens. Für die Amerikaner war ich
ein Mensch aus einem kleinen Land am Rande der von ihnen wahrgenommenen Welt.
Das einzige Ereignis in Deutschland, das in den USA große Schlagzeilen machte,
während ich dort studierte, war das schwere Flugtagunglück auf der Ramstein US
Airbase bei Kaiserslautern im Jahre 1988. Wenn überhaupt jemand mit mir über
mein Heimatland sprechen wollte, dann entweder, weil er einmal dort als Soldat
stationiert gewesen war, oder weil man sich für die deutsche Kultur
interessierte, die in den USA traditionell einen guten Ruf genießt. Die erste
Gruppe vermochte ich gesprächsweise aus dem Stand zu bedienen, und zwar zur
vollsten Zufriedenheit, solange ich bereit war, mir im Gegenzug die typischen
Geschichten über ihre Abenteuer mit »German Frolleins«, den Genuss von »German
beer« oder von »German Schnitzel« und dergleichen anzuhören. Der zweiten Gruppe
gegenüber befand ich mich ein wenig in der Bredouille. Ich war schlicht und
ergreifend nicht in der Lage, qualifizierte Diskussionsbeiträge zu leisten.
Amerikaner, die sich für den deutschen Expressionismus, die Wiener Klassik, die
Frankfurter Schule oder Literaten wie Bertolt Brecht, Kurt Tucholsky, Thomas
Mann und Günter Grass begeistern, erwarten automatisch, dass man als Deutscher
vorbildlich kunstsinnig ist. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ich
mich erst während meines Auslandsstudiums, angeregt durch meine amerikanischen
Freunde und Gesprächspartner, mit der Kunst und Literatur meines Heimatlandes
intensiver zu beschäftigen begann.
Mein
Studium führte mir vor Augen, dass politische Geschichte stets im Zusammenhang
mit den Entwicklungen der allgemeinen Geistesgeschichte zu sehen ist und dass
diese in Wechselwirkung mit den ästhetischen und kulturellen Entwicklungen
einer Epoche steht. Ich erkannte, dass meine Schulbildung im Grunde einseitig
geblieben war und dass ich mich nach wie vor um Themen herumdrückte, für die
ich als junger Spund kein spontanes Interesse empfand. Nun, ohne die Gängelung
und den Zwang des Gymnasiums, gewann intellektuelle Neugier die Oberhand.
Verblüffend
war für mich das Deutschlandbild der Amerikaner. Meine Gymnasialzeit fiel in
die um einige Jahrzehnte verspätete, dafür aber umso peniblere
Gewissenserforschung der Deutschen bezüglich ihrer jüngeren Vergangenheit. Die
Pädagogengeneration der 1970er-Jahre, von der ich geprägt wurde, schien uns
über die Gräuel der NS-Zeit nicht nur angemessen aufklären, sondern
diesbezügliche Versäumnisse an den deutschen Schulen, wie sie noch in den
Sechzigerjahren die Regel waren, fast noch überkompensieren zu wollen.
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