Kohl, Walter
konnte spüren, wie schwierig und
manchmal schier überwältigend die Probleme in diesen Tagen für meinen Vater waren.
Es gab viele Berater, doch keiner wusste, wie mit einer solchen historisch einmaligen
Situation umzugehen sei. Seit dem Zweiten Weltkrieg hatte es in Europa nichts
Vergleichbares gegeben. Nie hatten so viele wegweisende Entscheidungen in so
kurzer Zeit bei einer so dürftigen Informationslage gefällt werden müssen.
»Da geben
wir Milliarden für die Geheimdienste aus, und wenn es darauf ankommt, wissen
sie fast nichts.«
Auch ein
Satz, gesprochen in einem dieser Gespräche am Küchentisch in Oggersheim, an den
ich mich wortwörtlich erinnere. Und dennoch musste etwas getan werden: politisches
Handeln »auf Sicht«, ohne vorgezeichnete Wege, und das in einer Situation, wo
die Weichen für Jahrzehnte gestellt werden.
Oft wird
unterschätzt, wie groß der Einfluss unserer Mutter auf seine Entscheidungen in
diesen Tagen war. Ihr Flüchtlingsschicksal, ihre Erfahrungen mit der Roten
Armee ließen sie ihren Mann immer wieder motivieren, die »Gunst der Stunde«,
wie sie es nannte, entschlossen zu nutzen. Für Mutter war zeitlebens die Rote
Armee der Feind Nummer eins, und deshalb war für sie klar: »Die Russen müssen
raus!« Diese Meinung vertrat sie immer wieder mit Nachdruck und in aller
Offenheit. Mein Vater wusste, dass seine Frau es ihm nie verzeihen würde, wenn
er einer politischen Lösung zustimmte, die eine fortdauernde Stationierung der
Roten Armee in Deutschland ermöglichte. Auch war für sie eine nur teilweise
Aufgabe der deutschen NATO-Mitgliedschaft völlig indiskutabel.
Anfang
1990 setzte ein richtiggehender Exodus aus der DDR ein. Immer mehr Menschen
verließen das Land, vor allem die Jungen, die Aktiven und die Leistungsträger
waren die ersten, die gingen. Die monatlichen Zahlen stiegen schnell über die
Einhunderttausender-Marke, und es gab schon Hochrechnungen, wann »die DDR
leer« sein würde. Mein Vater musste Entscheidungen fällen, für die es kein
Vorbild und keine Erfahrungswerte gab.
»Du musst
die Menschen dazu bewegen, zu bleiben. Sonst bricht hier alles zusammen.«
So sagten
es damals viele zu ihm.
Im
Frühjahr 1990 war die Lage völlig unübersichtlich. Der Ausgang der
Zwei-plus-vier-Verhandlungen war mehr als ungewiss, in der deutschen
Innenpolitik herrschte heftiger Parteienstreit, und die Zahl der Flüchtlinge
überstieg alles bisher Dagewesene. Also ergriff mein Vater die Flucht nach
vorn, und aus der Psychologie des Augenblicks heraus entstand das Wort von den
»blühenden Landschaften«. Im damaligen politischen Kontext war es für eine
gewisse Zeit hilfreich, denn es machte Hoffnung auf eine bessere Zeit. Doch die
wirtschaftliche Realität der Wiedervereinigung sollte viele dieser Hoffnungen
in den Folge jähren enttäuschen.
Es gab
noch ein weiteres bewegendes Erlebnis für mich in diesem Jahr: die Feier zum
60. Geburtstag meines Vaters am 3. April 1990. Zuvor hatte er seine Geburtstage
ausschließlich in privatem Rahmen gefeiert. Doch diesmal war alles anders.
Neben der offiziellen Feier gab es auch eine »halboffizielle« im Bungalow des
Kanzleramtes mit etwa 130 Gästen aus Politik, Wirtschaft und einigen
persönlichen Freunden.
Meine
Mutter, Peter und ich entschieden, dass wir uns als Familie auch zu Wort melden
sollten und ich für uns drei sprechen würde. In meiner Rede sagte ich, dass
mein Vater sich der vollständigen Unterstützung von uns dreien sicher sein
könne. Im unserem Namen bestärkte ich ihn, den Weg mit aller Konsequenz zu Ende
zu gehen, keine falschen Kompromisse zu machen, auch wenn dies Schaden für
unsere Familie bedeuten würde. Mein Vater stand am Ende der Rede auf und dankte
mir mit Tränen in den Augen. Keiner wusste an diesem Tag, was alles in den
nächsten Monaten passieren würde, aber er konnte sicher sein, dass wir als
Familie bedingungslos hinter ihm stehen würden. In den vielen Jahren mit meinem
Vater war dieser Abend der vielleicht intensivste Moment von Gemeinschaft
zwischen uns.
Wanderjahre
Ich wusste, die Verwirklichung meiner Berufsplanung würde
alles andere als einfach werden, vor allem auf den ersten Etappen. Aber ich
wollte weg aus Deutschland, weg aus dem Schatten meines berühmten Vaters. Und
ich wollte es mir selbst und allen anderen zeigen. Hatte es mir nun mal in den
Kopf gesetzt, Investmentbanker zu werden. Etwa bei Morgan Stanley, einer der
großen Adressen an Wall Street. Dazu galt es einen
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