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Kohl, Walter

Kohl, Walter

Titel: Kohl, Walter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leben oder gelebt werden
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the chancellor« im Fernsehen
war. Sie fanden es einfach nur witzig, ich aber sah es mit einem lachenden und
einem weinenden Auge.
    Beide
Begebenheiten hatten keine unmittelbaren Konsequenzen, doch es waren
bedeutungsvolle Signale, die tief in mein Inneres reichten. Der Traum war
ausgeträumt, der »Sohn vom Kohl« hatte mich, Walter, wieder eingeholt. Ich kam
mir vor wie ein kleiner Junge, der von zu Hause abgehauen war, weil er es
nicht mehr ertragen konnte, und der nun von eiserner Faust heimgeholt wurde.
    Auf einmal
fühlte sich Amerika ganz anders an. Durch die anhaltende Berichterstattung über
meinen Vater begannen sich viele Kollegen überhaupt erst für mich zu
interessieren. In einer reinen Vornamenkultur wie in einer New Yorker Investmentbank
war meine Herkunft zuvor nie ein Thema gewesen. Doch nun gab es Menschen, die
mir auf einmal den Handschlag verweigerten. Konnte ich es jemandem verdenken?
Viele von ihnen kamen aus Familien, die Opfer durch den Holocaust zu beklagen
hatten. Schon bald erschienen Karikaturen meines Vaters mit einem ganz
speziellen Schnauzbart. Von anonymer Hand wurden sie mir auf den Schreibtisch
gelegt. In meiner Gegenwart, aber nicht direkt an mich gerichtet, wurde über
die Nazis gesprochen, wurde die Gefahr eines »Vierten Reichs« beschworen. Geübt
im Umgang mit solchen Situationen, gelang es mir, äußerlich ruhig zu bleiben.
In mir aber brodelte es. Nein, es schwärte. Wie eine alte Wunde, die wieder
aufbrach.
    Nachdem
alle endlich mitbekommen hatten, dass die Furcht vor einem erneuten Griff nach
dem Großmachtstatus durch das wiedervereinigte Deutschland unsinnig war, nutzte
sich die Skepsis und Ablehnung auch mir gegenüber rein mechanisch ab. Und
doch, etwas blieb hängen, sowohl an mir als
auch in mir. Ich würde fortan auch hier
der »Sohn vom Kohl« sein, wenn auch in abgemilderter Form gegenüber meinem
früheren Leben in Deutschland. Ich war enttäuscht und desillusioniert, tief
verunsichert in Bezug auf mein Ziel eines dauerhaften Lebens in Amerika.
Immerhin gab es genug zu tun ...
    Investmentbanking
an Wall Street war schon in den frühen 1990er-Jahren wie der Ritt auf einem
wilden Pferd. Als Junior Financial Analyst war ich am untersten Ende der
Hierarchie angesiedelt. Meine Wochenarbeitszeit betrug regelmäßig zwischen 80
und 90 Stunden, und das Salär war, ganz offen gesprochen, erbärmlich. In
unserem Team wurde geflachst, dass man, um wenigstens etwas mehr zu verdienen,
doch vielleicht lieber in der McDonalds-Filiale im Zugangsbereich der U-Bahn,
direkt unter unserem Wolkenkratzer neben dem Rockefeller-Center, arbeiten
sollte. Und tatsächlich: Unser effektiver Stundenlohn war niedriger als bei
den einfachen Angestellten dort. Doch im Gegensatz zu denen schufteten wir ja -
zumindest theoretisch - für eine »goldene Zukunft« als hochbezahlte
Spezialisten. Im Übrigen: Wer hier über Belastungen klagte, galt als fehl am
Platze.
    Was mich
selbst betrifft, so blieb das Investmentbanking nicht auf Dauer Teil meiner
Lebensplanung. Dieser Entscheidung weine ich keine Träne nach, aber ich muss
anerkennen, dass ich dort eine sehr intensive Lehrzeit, von der ich viel profitiert
habe, verbringen durfte. Beim Bund hatte ich ja bereits die Erfahrung gemacht,
was es bedeutet, bis ans eigene Limit zu gehen - und sogar darüber hinaus. Auf
ähnlich intensive Weise durchlief ich nun eine Praxisschule im Businessbereich,
und das sollte mir später ganz direkt zugute kommen.
    Effiziente
Verhandlungsführung, klare Präsentation, zielorientierte Kommunikation,
lösungs- und handlungsorientiert zu arbeiten - das ist die
Morgan-Stanley-Schule, und ich schätze mich glücklich, auch diese Erfahrung
gemacht haben zu dürfen.
    Nach zwei
weiteren, ebenso turbulenten wie lehrreichen Jahren in New York machte ich am
INSEAD in Frankreich noch meinen Master of Business Administration, aber dann
entschied ich mich endgültig gegen eine Laufbahn als Banker. Innerlich suchte
ich die Rückkehr nach Deutschland. Ich wollte kein wurzelloser Emigrant, kein
professioneller Nomade sein. Und da meine Flucht ohnehin gescheitert war, konnte
ich mich meinen Problemen auch genauso gut zu Hause stellen. Obwohl ich gleich
zwei Angebote hatte, für Morgan Stanley in San Francisco beziehungsweise
Chicago zu arbeiten, entschloss ich mich zur Rückkehr. Ich wollte leben als
der, der ich wirklich war. Ich wollte Walter Kohl sein, das war meine tiefste
Sehnsucht. Aber ich mochte nicht mehr

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