Kohl, Walter
ganzen Parcours von
Bewerbungsgesprächen zu bewältigen. Allein aus Harvard College bewarben sich
mehrere Hundert Absolventen, und nur ein knappes Dutzend würde schließlich ins
Analystenprogramm der Bank aufgenommen werden. Schon der Auswahltest, um für
eine persönliche Vorstellung zugelassen zu werden, war sehr hart. Als ich
schließlich dem Recruiting Team gegenübersaß, drehten sie mich nach allen
Regeln der Kunst durch die Mangel: hart, aber fair. Es ist diese typische
Mentalität der Amerikaner, die ich sehr schätze. Ein bisschen wie beim
Football: Wenn du gut bist, dann bekommst du auch den Ball. Bei Morgan Stanley
wusste man natürlich von meiner Herkunft, aber es war ihnen egal. Hier ging es
nur um eines: persönliche Performance, Einsatz bis zum Umfallen, eben die
bekannte Can-Do-Haltung.
Und ich
schaffte es. Das Team, dem ich zugeordnet wurde, arbeitete ausschließlich für
US-Kunden im Energiesektor. Firmeninhaber und Manager aus dem »echten« Amerika
eben, etwa aus Oklahoma, aus Texas und aus Louisiana. Eine Klientel, die ihre
geschäftlichen Aktivitäten nach klaren Regeln strukturiert wissen wollte und
die ihre Partner nach einem einfachen, fast archaischen Kodex einstufte. Und da
besaß ich, abgesehen von einer guten Ausbildung und viel Einsatzbereitschaft,
einige nicht von der Hand zu weisende Pluspunkte: eine beachtliche körperliche
Statur, eine gut vernehmbare Stimme, ein ansteckendes Lachen - und mein
Offizierspatent. Das war wichtig, denn fast alle Manager, denen ich
gegenübersaß, waren Ex-Marines oder Ex-US-Army-Offiziere. Da spielte es kaum
eine Rolle mehr, dass ich als Deutscher ein Exot in einer ansonsten
geschlossenen Gesellschaft war. Mein Chef sagte mir in meinem letzten Auswahlgespräch:
»Walter, I
need a big, tough guy. Come and join the team.«
Damit
hatte ich meinen Job. Eigentlich alles bestens, oder?
Der Sommer
1990 war so heiß, dass New York City einer ummauerten Freiluft-Sauna glich. An
einem jener heißen, stickig-schwülen Abende, es war wieder einmal spät geworden
im Büro, ging ich auf dem Heimweg noch rasch in den Supermarkt nebenan, um ein
paar kühle Getränke zu holen. Ich lebte in einer WG mit zwei ehemaligen
Studienfreunden in einem kleinen Apartment an der Lexington Avenue, Ecke 63.
Straße, mitten in Manhattan. Als ich an der Kasse anstand, bat mich eine
Mitarbeiterin des Ladens, doch kurz mal zur Seite zu treten, damit sie die
neuen Zeitschriften in die Auslage legen konnte. Gedankenverloren beobachtete
ich sie dabei. Plötzlich war ich hellwach. Auf der Titelseite von Time erblickte
ich ein nur zu bekanntes Gesicht: meinen Vater! Darunter prangte eine fette
Schlagzeile: »Mr. Germany«. Ich war wie vom Donner gerührt.
Mit dem
Mauerfall hatten die US-Medien schlagartig begonnen, sich intensiv mit
Deutschland, mit der Wiedervereinigung und mit deutschen Politikern zu
beschäftigen. Während meiner Studienzeit hatte es praktisch keine Berichterstattung
über uns gegeben, doch nun waren die Ereignisse zwischen Bonn und Berlin ganz
oben auf der Liste der Tagesereignisse. Es gab ja auch ständig neue Meldungen,
und die historische Dimension der Entwicklung in Europa, in deren Mittelpunkt
das immer noch geteilte Deutschland stand, war natürlich auch den Amerikanern
klar. Die Einführung der D-Mark in der DDR war erst vor wenigen Wochen vollzogen
worden. Der Abzug der Roten Armee von deutschem Territorium lag in der Luft.
Weltweit wurde von den politischen Kommentatoren und Beobachtern die Frage
einer Wiedervereinigung diskutiert.
All das
war mir natürlich sonnenklar gewesen. Doch jener Moment, als ich, schwitzend
und von einem langen Arbeitstag erschöpft am Zeitschriftenregal irgendeines
New Yorker Supermarktes stehend, das Konterfei meines Vaters auf der Titelseite
einer der bedeutendsten journalistischen Publikationen des Landes erblickte,
machte mir schlagartig bewusst, dass ich nirgendwohin mehr weglaufen konnte. Es
gab ihn nicht mehr, diesen Ort des Friedens, der Anonymität - nicht für mich,
Walter Kohl.
Hier war
ich nun, in einem fremden Land, Tausende von Kilometern fern der Heimat: aus
dem einzigen Grund, endlich aus dem langen Schatten meines berühmten Vaters
herauszutreten. Ich hatte mich fast perfekt integriert, sprach inzwischen so
gut Englisch, dass ich bei einem Casting für einen Werbespot, an dem ich aus
Jux teilnahm, als Amerikaner durchgegangen war. Als der Spot nun lief, nahmen
meine Kollegen mich damit hoch, dass »the son of
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