Kohl, Walter
weglaufen.
Anfang
1994 kehrte ich nach Deutschland zurück und nahm eine Stelle als
Beteiligungscontroller bei einem großen Kölner Handelskonzern an. Tätigkeit und
Branche waren mir schon deshalb sympathisch, weil sie keinerlei direkte
Berührungspunkte mit dem politischen Geschäft aufwiesen. Gleichwohl musste ich
nach wie vor erleben, dass kein Tag verging, an dem ich nicht auf meinen Vater
angesprochen wurde. Auch setzte sich jene Art von Erfahrung nahtlos fort, wie
ich sie im Kollegen- und Bekanntenkreis, aber auch mit mir völlig unbekannten
Menschen ständig hatte machen müssen, bevor ich ins Ausland ging. Das setzte
mir nach wie vor zu, denn ich hatte noch immer kein wirksames Rezept
entwickelt, um mich wenigstens innerlich davon loszusagen. Doch will ich hier
keine konkreten Begebenheiten beschreiben, weil darüber genügend gesagt worden
ist und nichts grundsätzlich Neues hinzugefügt werden könnte.
Der Mensch
gewöhnt sich an alles, so spricht der Volksmund. Doch dem kann ich nur
teilweise zustimmen. Sicherlich kann die ständige Wiederholung negativer
Erlebnisse diesen sehr wohl die eine oder andere emotionale Spitze nehmen. Man
hofft, dass ein bestimmtes Erlebnis einem diesmal nicht so sehr unter die Haut
gehen möge, weil man die Art der Erfahrung ja nur zu gut kennt, man hofft jedes
Mal, dass der Stachel diesmal nicht so tief ins Fleisch bohrt. Solange jedoch
keine grundsätzliche Wandlung eintritt, ist es lediglich der
Abstumpfungseffekt, der es leichter zu machen scheint, aber dafür umso tiefere
Spuren im Innern hinterlässt. Auch wenn man sich immer wieder bemüht, ein
dickes Fell zu entwickeln, so nimmt einem die zermürbende Kraft der dauernden
Wiederholung doch mit der Zeit die Lebensfreude.
Ebenso
wenig heilsam, aber doch zeitweise spürbar lindernd ist es, wenn das nach wie
vor schmerzende Problem vorübergehend in den Hintergrund tritt, einfach weil
man zu sehr mit seinem Leben beschäftigt ist, um vertieft darüber nachzudenken.
War es in New York der Beruf, so stand jetzt mein Privatleben im Zentrum
meiner Aufmerksamkeit. Ich wünschte mir eine ganz normale bürgerliche Existenz.
Eine Heimat - innerlich und äußerlich.
Fast
zeitgleich mit meinem Arbeitsanfang in Köln lernte ich meine erste Frau kennen.
Auf einmal, so erschien es mir, kam alles wie erhofft zusammen. Ich hatte einen
»normalen« Job und würde eine »normale« Familie gründen. Ich konnte es kaum
erwarten, endlich in das Leben einzutauchen, das ich mir so sehr wünschte. Wir
verlobten uns schon nach wenigen Monaten Beziehung. Im ersten Ehejahr wurde unser
Sohn geboren.
Im Grunde
suchte ich immer noch nach jenem Glück, das mir, wie ich meinte, in meiner
Jugend verwehrt worden war. Ich wollte eine Familie haben, wie ich sie bei
meinen Schulkameraden, aber so gut wie nie bei mir zu Hause erlebt hatte. Ich
wollte diese Art von Leben förmlich herbeizwingen, quasi als Wiedergutmachung
für eine Jugend, die so anders gewesen war, als ich es mir gewünscht habe.
Heute ist
mir klar, dass ich die innere Legitimation für dieses, ich möchte sagen: im
Grunde selbstsüchtige Lebenskonzept auch aus einer Maxime bezog, die ich von
meiner Mutter übernommen hatte:
Wenn ich
alles richtig mache, dann wird alles gut.
Ich
verstand nicht, dass dies eine Apologetik war, um vor mir selbst etwas zu
verbergen: Wenn nur einer von zwei Menschen, die sich miteinander verbinden,
zuvor seine biografischen Altlasten nicht bearbeitet hat, belastet dies die
Ehe von vornherein. Genau diese Erfahrung mussten wir machen. Schon nach kurzer
Zeit begannen wir uns auseinanderzuleben.
So kam
einiges zusammen - jedenfalls mehr als genug, um das Leben mit jener
Atemlosigkeit zu versehen, welche die Zeit vergehen lässt wie im Fluge. Auch
wenn meine erste Ehe nicht sehr lange halten sollte, war ihr sichtbares
Ergebnis doch nachhaltig: Ich hatte jetzt selbst einen Sohn, und ich war fest
entschlossen, ihm trotz der Trennung ein echter Vater zu sein, aus einem ganz
tiefen und aufrichtigen Wunsch heraus.
Und mein
eigener Vater? Er befand sich ja die meiste Zeit in kaum 30 Kilometer
Entfernung. Auch meine Mutter hatte den Kanzlerbungalow mehr oder weniger zu
ihrem Lebensmittelpunkt gemacht. Doch irgendwie schaffte ich es nicht, mit
meinen Eltern zusammenzukommen. Vermeintlich wichtigere Dinge verhinderten
immer wieder, dass wir die räumliche Nähe nutzten, um die einmal aufgebaute
Verbundenheit zwischen uns aufrechtzuerhalten. Ich muss gestehen, dass
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