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Kohl, Walter

Kohl, Walter

Titel: Kohl, Walter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leben oder gelebt werden
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Wagen nach Oggersheim, wo ich noch
vor dreizehn Uhr ankam. Vor dem Haus wurden gerade die ersten Mikrofone
aufgebaut, Paparazzi umringten mich und bestürmten mich mit Fragen. Auch die
Polizei war schon da. Sie begann die Straße zu räumen und Absperrgitter
aufzubauen. Schon bald würden sich dahinter Hunderte von Fotografen,
Kameraleuten und Journalisten um die »besten Plätze« rangeln.
    Im Haus
selbst war gerade die amtliche Prozedur angelaufen. Der Notarzt hatte den Tod
festgestellt und ein Staatsanwalt war eingetroffen. Als ich hinzukam, hielt
man inne, um mir Gelegenheit zu geben, mich von meiner Mutter zu verabschieden.
Hilde Seeber, die ihr jahrelang als Haushälterin und Vertraute zur Seite
gestanden hatte, hatte sie gefunden. Sie nahm mich in die Arme. Stumm wies sie
nach oben, in Richtung meines alten Zimmers. Ein bis ins Mark erschütterter
Ecki Seeber begleitete mich die Treppe hinauf.
    Mit
klopfendem Herzen ging ich zur Zimmertür. Ich kannte jede Stufe, jeden Schritt,
doch alles kam mir jetzt so fremd vor. Meine Hand zitterte, als ich die Klinke
drückte und in mein ehemaliges Zimmer eintrat. Sie lag im Bett, wie in tiefem
Schlaf, mit friedlichem Gesichtsausdruck. Als ob sie sagen würde:
»Siehst du, Walter, so ist es.«
    Leise und
behutsam schloss ich die Tür, so als ob ich sie noch hätte stören können. Am
Bett kniete ich nieder, beugte mich über sie und nahm sie in den Arm. Doch es
war nicht mehr meine Mutter, es war ein toter, kalter Leib, der sich wie Wachs
anfühlte. Es war ein heißer Sommertag, weit über 30 Grad, ich schwitzte aus
allen Poren, doch der Körper, den ich an mich drückte, fühlte sich wie aus Eis
an. Die Mutter ist der Quell des Lebens. Die eigene Mutter tot in den Armen zu
halten, ist grausam und schrecklich, und dann noch ohne Abschied. In diesem
Moment brachen alle Gefühle aus mir hervor wie aus einem vor Überdruck
platzenden Kessel. Ich weinte und schrie, wie von Sinnen.
    Ich weiß
nicht, wie lange ich so kauerte. Irgendwann legte sich eine Hand auf meine
Schulter, und ein Mann, den ich noch nie gesehen hatte, bot mir ein
Beruhigungsmittel an. Ich lehnte ab, zog mir einen Stuhl heran, nahm Platz und
saß bei ihr, ganz allein. Ich sprach und betete mit ihr, während mir die Tränen
über das Gesicht rannen. Es war eine Weile tiefsten Schmerzes, aber auch tiefen
Friedens und großer Klarheit. In meiner Mutter, die mir das Leben geschenkt
hatte, sah ich den Tod vor mir liegen, und er hatte nichts Bedrohliches,
nichts Gewalttätiges mehr. Im Gegenteil: Wie erlöst ihr Gesichtsausdruck, der
Körper sichtlich entspannt im Moment des Scheidens. Ihr Anblick schenkte mir
selbst jetzt, im größten Schmerz und stark unter Schock stehend, auch ein
Stück Frieden. Ich dachte nichts, aber ich fühlte umso mehr, was Worte nie
werden ausdrücken können.
    Mein Blick
fiel auf die Schüssel auf dem Nachttisch, und ich wusste sofort, auf welche
Weise sie in den Tod gegangen war. Sie hatte alles systematisch vorbereitet,
sie hatte die Medikamente, aus denen sie sich den tödlichen Trank mixte,
sorgfältig gesammelt. Es muss sehr friedlich und entschieden vor sich gegangen
sein. Ich bin sicher, auf ihrem letzten Gang musste sie nicht mehr leiden. Auch
sah ich die zahlreichen Briefe, die sie von Hand adressiert hatte. Sie lagen
auf einem kleinen Beistelltisch, sauber sortiert, wie Namenskarten für eine
Veranstaltung. Wie in Trance suchte ich mir den für mich bestimmten Umschlag
heraus und nahm ihn an mich. Ich öffnete das Kuvert, entfaltete den Brief und
las ihn mit einer Hand auf ihrem Arm.
    Ich sah in
mein Zimmer, in meine Kindheit und Jugend, und immer wieder auf meine tote
Mutter. Bilder, die sich für immer in mein Gedächtnis einfrästen. Und eines war
so klar, dass ich es fast körperlich zu spüren vermochte.
    Hier wird
nichts mehr so sein wie bisher. Ihr Weggang wird unser Haus, wird unsere
Familie für immer verändern.
    Ich
brauchte nur ans Fenster zu treten, um zu erahnen, was auf uns einstürmen
würde. Sobald ich dort stand, richteten sich Dutzende Kameras in meine Richtung
aus. Dort unten wurde bereits mit Teleobjektiven und Richtmikrofonen
gearbeitet, um das dringend benötigte »verwertbare Material« einzusammeln.
Nichts anderes war zu erwarten gewesen.
    Ich
verließ das Zimmer und sprach mit Polizei und Staatsanwaltschaft. Es war klar,
dass hier keine besondere gerichtsmedizinische Untersuchung nötig war. Mutter
durfte zunächst bei uns bleiben. Das war jetzt erst

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