Kohl, Walter
ihn vielleicht als letzten Ausweg
anzunehmen. Und je länger ich mich dieser Beschäftigung hingab, desto angenehmer
und attraktiver erschien mir der Tod, zunächst. Er wurde zu einem lächelnden,
lockenden Begleiter.
Wenn ich
mit dem Motorrad auf den schmalen Landstraßen des Hintertaunus und des
Westerwaldes fuhr, dann suchte ich den Nervenkitzel des rasanten Ausfahrens der
engen Kurven. Ich verspürte keine Hemmungen mehr, mein Leben und meine
Gesundheit aufs Spiel zu setzen. Ich fuhr wie in Trance. Zwar achtete ich
peinlich darauf, andere Verkehrsteilnehmer nicht zu gefährden, doch auf den
zumeist schwach befahrenen Landstraßen konnte ich richtig Gas geben und die
Gefahr in der Magengrube spüren. Deshalb fuhr ich hinaus, nur deshalb. Mehr als
einmal ließ ich mich an den Rand der Kurve, an den Rand von allem tragen, und
für einen Sekundenbruchteil blickte ich in den Abgrund in mir. Doch stets fing
ich die Maschine knapp ab. Es war eine Form von Trance, eine Mischung aus
Desinteresse und Euphorie, die sich meiner bemächtigt hatte. Ich beobachtete
mich selbst, wie ein Zuschauer einen Film betrachtet. Doch selbst diese
Erfahrung wurde mir schal, die Fahrten uninteressant, ich konnte mich damit
immer weniger ablenken.
Ein Song
der Rockband Cinderella drückte meine Gefühle aus. Er trug den Titel: »You
don't know what you got until it's gone.« So vieles war zerbrochen, schien für
immer verloren. Immer weniger mochte ich an mein Glück, an meine Zukunft
glauben.
Ich war
ein wandelnder Widerspruch. Sosehr ich im Kopf auch wusste, dass ich etwas tun
musste, so regressiv war mein Verhalten. An einem schönen Frühlingsabend saß
ich vor dem Panoramafenster meines Wohnzimmers. Die frische Frühlingssonne
schien herein, und ich überlegte wieder einmal, wie es denn nun weitergehen
solle. Ich saß in meinem Lieblingssessel, blickte auf die lebenspralle
Frühlingslandschaft. Welch ein Widerspruch. Um mich herum erblühte alles, und
ich war nur noch ein Schatten meiner selbst.
Meine
Bilanz war ernüchternd, freundlich ausgedrückt. Die Aufgaben aus dem
Vermächtnis meiner Mutter hatte ich nach bestem Vermögen zu erfüllen versucht.
In Oggersheim wurde ich nun wirklich nicht mehr gebraucht, mein Vater war »gut
aufgestellt«, zumal die Seebers ihn weiterhin mit großer Herzenswärme und einem
gesunden Pragmatismus umsorgten. Beruflich hatte ich einige Sprossen auf der
Karriereleiter erklommen, allerdings mit wenig Perspektive und ohne Freude an
meiner damaligen Tätigkeit. Wollte ich mich weiter einfach treiben lassen? Wenn
ich nur lernen würde, im richtigen Moment zu schweigen, anstatt es besser
machen zu wollen. Wie hatte ein bestimmter Kollege neulich zu mir gesagt:
»Herr
Kohl, seien Sie doch einfach ruhiger. Warum interessiert Sie es eigentlich,
alles immer besser machen zu wollen, es ist doch nicht Ihr Geld. Geben Sie
einfach Ruhe, laufen Sie einfach mit. So können Sie in Ruhe hierbleiben, und in
x Jahren, wenn ich in Rente gehe, kriegen Sie wahrscheinlich meinen Job.«
Daheim war
es nicht besser. Nichts war in meinem Privatleben geklärt, jeder lief vor sich
und dem anderen weg, das Ende der Ehe war fühlbar nahe. Früher oder später
würden Entscheidungen gefällt werden müssen, ich wusste, dass kaum noch
Hoffnung auf eine glückliche Gemeinsamkeit bestand.
Ich musste
mir eingestehen, dass meine privaten Träume geplatzt waren.
Die warme
Sonne schien durchs Fenster, und ich räkelte mich erstaunlich entspannt in
meinem Sessel. Innerlich aber war ich sehr müde, fast schon desinteressiert an
meinem eigenen Schicksal. Zu viele Krisen, zu viele Kämpfe. Ich betrachtete
mich von außen, wie man als Unbeteiligter einen Unfall auf der Autobahn
wahrnimmt. Ich erschien mir völlig entfremdet von mir selbst. Klar, ich konnte
in Urlaub gehen, körperliche Kraft sammeln - und dann wieder zurück ins
Hamsterrad. Aber wofür? Ich kam mir vor wie eine bloße Hülle ohne Inhalt, nicht
wie ein Mensch aus Fleisch und Blut.
In dieser
zutiefst destruktiven Stimmung entstand auf einmal dieser Gedanke. Soll ich den Weg meiner Mutter gehen?
Je mehr
ich es bedachte, desto mehr schien dafür zu sprechen. Zu verlieren hatte ich,
wie mir schien, gar nicht viel, und eine große Lücke würde ich auch nicht
hinterlassen. So dachte ich auf einmal. Langsam begann ich mir ein passendes
Szenario auszumalen, zunächst mehr sporadisch, rein spielerisch, wie ich mir
weismachen wollte, dann jedoch zunehmend systematisch, mit Ziel
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