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Kohl, Walter

Kohl, Walter

Titel: Kohl, Walter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leben oder gelebt werden
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innehatte, sondern die sich die Achtung und
Anerkennung weiter Bevölkerungskreise kraft eigener Persönlichkeit erarbeitet
hatte. Auf der anderen Seite war da das Trauma des innerlich verletzten Kindes,
das nie wirkliche Heilung erlebt, das sich selbst als wertlos, unselbstständig
und unwichtig definiert hatte. In ihrem Innern kämpften widersprüchliche Persönlichkeitsanteile
miteinander, und sie konnte deshalb keinen seelischen Frieden finden. Sie
befand sich in einem Teufelskreis, denn jeder weitere öffentliche Erfolg war
einerseits schön, doch er vergrößerte auch die Fallhöhe bei einem Absturz.
Deshalb konnte sie nie ihre eigenen Erfolge wirklich anerkennen und sich nur
sehr begrenzt an ihrem Leben erfreuen. Wenn Freude ein Treibstoff der Seele
ist, dann wurde ihr Tank zu selten aufgefüllt.
    Aufgeben
ist das Letzte, was man sich erlauben darf.
    Das sagte
sie in ihrem letzten Interview. Aber an ihre eigene Devise geglaubt hat sie
womöglich selbst nicht mehr - war es eher gedankliche Routine, die sie zu
dieser Aussage veranlasste? Ihr Körper und ihre Seele konnten nicht mehr, ihr
Allheilmittel Disziplin war an die Grenzen gestoßen, sie war in einem für sie
unlösbaren Dilemma gefangen. Kurz darauf wählte sie den Tod.
    Und mein
Vater? Er war und ist ein Mensch, der sich mit sich selbst im Reinen befindet.
Ambivalenz, Zwiespältigkeit, Hin-und-hergerissen-Sein gar: Das sind innere
Zustände, die er nicht zu kennen scheint. Er ist ein sehr klar strukturierter
Mensch, bei dem der eigene Führungsanspruch und die Absicherung der
Machtposition im Vordergrund stehen. Um diese Ansprüche langfristig umzusetzen,
gehören Skepsis, Ausdauer, Härte und manchmal auch eine gehörige Portion
Misstrauen dazu. Nicht umsonst heißt es: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.
    Natürlich
muss sich ein Politiker auch als cleverer Stratege erweisen, der seine
Absichten so lange im Verborgenen lässt, wie er es für nötig hält. Auch darin
war er ein Meister, etwa wenn es um Personalfragen in der Partei ging. Dieses
Taktieren war für ihn aber immer nur Mittel zum Zweck, denn das ist nicht
seine Natur. In dem Menschen Helmut Kohl kann man lesen wie in einem offenen
Buch. Ich gehe so weit und wage die Behauptung, dass es keinen wirklich
markanten Unterschied zwischen dem Politiker und dem Privatmenschen Helmut
Kohl gibt. Für ein »geborenes Alphatier« wie ihn gestaltet sich die Sicht auf
die Welt, sei es die Politik, sei es das eigene Privatleben, gleich. Seine
Emotionalität kann situativ sehr volatil sein, seine Einstellung zu ein und
demselben Thema mag überraschend wechseln. Indessen sortieren sich alle
scheinbaren Widersprüche auf einen einzigen Punkt hin, gleichsam den
gemeinsamen Fluchtpunkt, auf den die erstaunlich zahlreichen Perspektiven
zulaufen, die er einzunehmen in der Lage ist: die einfache Frage, ob er sich
als die unangefochtene Nummer eins fühlen darf. Helmut Kohl definiert sich
selbst über seinen Führungsanspruch.
    Wenn sich
zwischen meinem Vater und mir eine positive Streitkultur entwickelt hätte, wäre
zwischen uns vielleicht etwas Wundervolles entstanden. Unsere inhaltlichen
Differenzen waren selten wirklich gravierend. Gewisse Ansichten meiner Mutter
bereiteten mir weit größere Bauchschmerzen. Zwischen ihr und mir schien aber
stets ein kommunikatives Schmiermittel zu wirken, das die Verständigung in Gang
hielt oder wieder in Gang brachte, wenn sie einmal vorübergehend ausgesetzt
hatte. Zwischen Vater und mir war es dagegen so, als ob wir ständig mit halb
gezogener Handbremse kommunizieren müssten, um überhaupt im Gespräch zu
bleiben. Wurde die Bremse gelöst, schienen zwei Züge unaufhaltsam aufeinander
zuzurasen. Wurde sie noch weiter angezogen, kam alles zum Stillstand. Ein
frühes Beispiel für dieses Problem war unsere »Diskussion« über die Gefahren
des Terrorismus, nicht im politischen Sinne, sondern im direkten Bezug auf uns,
die Familie Kohl. Zunächst wich er aus. Er musste plötzlich telefonieren, oder
es gab dringende Post zu erledigen. Da ich nicht lockerließ und ihn mit
bohrenden Fragen verfolgte, stauchte er mich schließlich zusammen. Der Krieg
sei doch viel schlimmer gewesen. Er selbst hätte in meinem Alter ganz andere
Probleme gehabt. Mir ginge es doch gut - kein Grund, sich so anzustellen. Ich
hätte ja ein sorgenfreies Leben und sollte mir keine Gedanken machen über
Dinge, die ich nicht verstünde. Für mich würde bestens gesorgt, und alles
andere sei doch

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