Kohl, Walter
politischen Freundschaften innewohnt, zu erkennen. Nicht
umsonst witzelt der Volksmund: Freund, Feind, Parteifreund. Mit erstaunlicher,
bisweilen an Naivität grenzender Hartnäckigkeit glaubte sie daran,
vertrauensvolle Beziehungen im Bonner Politmilieu aufbauen zu können. In den
1980er-Jahren schuf sie sich einen Kreis von Journalisten, auf die sie sich in
Krisen verlassen zu können glaubte. In einer Reihe von Hintergrundgesprächen
öffnete sie sich und hoffte im Gegenzug auf Fairness und Respekt. Meine
diesbezügliche Skepsis nahm sie zur Kenntnis, aber leider nicht ernst.
Als mein
Bruder im Herbst 1991 einen schweren Autounfall hatte und in Monza
lebensgefährlich verletzt in der Klinik lag, wurde das Credo meiner Mutter
erstmals einem echten Härtetest unterzogen. Wir drei eilten nach Monza, um
Peter zur Seite zu stehen. Die deutsche Presse war schon vor Ort. Einige ihrer
Vertreter schreckten nicht davor zurück, sich heimlich Zutritt zum
Krankenzimmer verschaffen zu wollen, um dort Fotos zu machen. Krankenschwestern
wurden dafür hohe Geldbeträge geboten. Ein todkranker Peter Kohl musste in der
Intensivstation unter Polizeischutz gestellt werden.
Dies war
ein Extremfall, aber auch sonst erwiesen sich die von meiner Mutter
aufgebauten, sogenannten vertrauensvollen Beziehungen zu Journalisten als
nicht belastbar. Im Gegenteil. Vertrauliche Informationen wurden
gewinnbringend genutzt. Für meine Mutter war das eine große Enttäuschung.
Nach
»Monza« zog sie sich aus den Bonner Kreisen zurück, und in Berlin baute sie gar
kein Netzwerk mehr auf. Sie musste erkennen, dass es in der Spitzenpolitik und
in den Topebenen der Medien in der Regel keine Freundschaften, sondern nur
Interessen gibt.
Die
weitere Entwicklung machte schließlich unmissverständlich klar, dass ein
»Leben nach den Ämtern« nicht möglich war. Diese Hoffnung wurde unter der
medialen Lawine der Spendenaffäre ein für alle Mal begraben. Alle Hoffnung,
alle Zukunftsfreude, alle Erleichterung, die meine Mutter mir 1999 immer wieder
bezeugte, waren nur wenige Monate später hinfällig. Wieder wurde sie von
Menschen, denen sie geholfen hatte, verraten, jedenfalls nach ihrem
Verständnis. Wieder regierten die Interessen über die Freundschaften. Wieder
wurde sie in Mithaftung genommen für Dinge, an denen sie nicht beteiligt war,
von denen sie nicht einmal etwas gewusst hatte, die auch nicht das Geringste
mit ihr selbst zu tun hatten. Dass sie von den Medien dennoch gnadenlos in
diesen Sturm mit hineingezogen wurde, empfand sie als öffentliche Demütigung
ihrer selbst. Es war für sie, einen schon schwerkranken Menschen, einfach zu
viel. Vielleicht kam schon hinzu, dass sie auch immer weniger an einen gemeinsamen
Lebensabend mit ihrem Mann glaubte.
Mutter
kannte, wie gesagt, nur ein einziges Rezept, mit Herausforderungen umzugehen:
Selbstdisziplin. Sie folgte dem Motto: Ausgleichen, bis hin zur Selbstaufgabe.
Das war ihr Weg. Durch ihre einseitige Disziplinorientierung bis hin zur
Selbstverleugnung sperrte sie sich innerlich ein. Sie verbaute sich damit Wege
zur eigenen Lebensgestaltung. Sie nahm sich nie die Freiheit, ihre eigenen Wege
zu finden und zu gehen. Sie wurde gelebt, sie hat nur selten sich selbst
gelebt.
Letztlich,
so glaube ich, hat sie nie ihre eigene Identität gefunden und sich immer den
gefühlten Zwängen ihrer jeweiligen Lebenssituation und ihrer Ehe unterworfen.
Aufruhr und Revolution waren ihr zutiefst fremd, sie konnte und wollte nicht am
System rütteln. Sie blieb lieber ein treuer Kamerad, mit dem man durch dick und
dünn gehen konnte, auch wenn sie sich dabei manchmal schier »innerlich
umbringen« musste. In dieser Haltung wurzelt meiner Meinung nach ein tiefer
liegender Grund für ihren Selbstmord.
Ihre
schwere Krankheit interpretiere ich heute differenzierter als damals. Ich sehe
sie nicht nur als eine Folge medizinischer Komplikationen, sondern auch als
eine körperliche Reaktion auf zunehmend unerträgliche seelische Widersprüche.
Rückblickend glaube ich, bei aller Vorsicht der Beurteilung, sagen zu können,
dass meine Mutter »das Licht scheute« - dies nicht im Sinne der Redensart,
sondern im Sinne einer psychologischen Symbolik: Sie konnte und wollte ihr
Leben nicht offen und ehrlich, eben bei Licht, betrachten. Sie war einerseits
eine Frau, die sich in allerhöchsten Kreisen bewegte, der viele Menschen zu
Füßen lagen, die nicht nur als Kanzlergattin eine hervorgehobene
gesellschaftliche Stellung
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