Kohlenstaub (German Edition)
konnte.
Die Steinwache war damals die Sammelstelle.«
Mir stockte der
Atem. Hier im Pfarrhaus hatten während des Kriegs Juden gelebt? Und die
Nachbarn hatten von den Deportationen gewusst und nichts unternommen?
»Hat ihnen denn
keiner geholfen?«, flüsterte ich. »Ich meine, sie versteckt oder irgendetwas
getan, um sie zu retten?«
»Was wissen Sie
denn, wie das damals war!«, herrschte Kruse mich an. »Sie waren doch kaum auf
der Welt, Sie können sich das alles nicht vorstellen!«
»Mir wird
schlecht. Ich muss an die frische Luft«, sagte ich und drehte mich auf dem
Absatz um.
Draußen hatte sich
eine Menschentraube gebildet. »Jetzt ist auch noch der Junge weg …«, hörte ich.
»Ich sag ja, da
liegt ein Fluch auf dem Haus!« Trudi hatte ihre Trinkhalle im Stich gelassen.
»Alte Unke.
Vielleicht ist der Junge einfach ausgekniffen! Hatte genug von seinem
Elternhaus. Jetzt, wo der Vater unter Mordverdacht steht …«, kommentierte
Luschinski.
»Das dicke Ende
kommt nach, sach ich immer!«
»Halt die Klappe,
Trudi!«
Schwester Käthe
schirmte Frau Jankewicz ab, so gut es ging. Die blonde Frau schaute mit leerem
Blick vor sich hin. Nahm sie ihre Umgebung überhaupt wahr?
»Ihr Mann kommt
gleich«, versuchte Schwester Käthe sie zu beruhigen. Doch Frau Jankewicz
reagierte nicht.
Ein Streifenwagen
fuhr vor. Kellmann und ein junger Mann in blauer Nylonjacke sprangen heraus.
»Platz da. Jetzt
kommt die Polizei. Wir durchsuchen das Haus. Keiner darf rein! Das gilt auch
für Sie, Luschinski!«
Luschinski
grinste. »Da sind schon welche drin!«
Wenig später
erschienen Kruse und Rabenau.
Der Presbyter trug
ein totes Kaninchen in der Hand.
Damit war das Maß
voll. Ich übergab mich in den Rinnstein.
Als ich aufwachte,
war es dämmerig im Raum. Irgendwie musste ich es in mein Pfarrhaus geschafft
und mich auf die Couch im Wohnzimmer gelegt haben. Oder jemand hatte mich
begleitet und auf das Sofa gebettet.
Ich hörte, wie
sich ein Schlüssel im Schloss drehte.
»Hallo?«, rief ich.
Merkwürdigerweise hatte ich nicht einmal Angst. Für einen unsinnigen Augenblick
hoffte ich, Luschinski würde den Raum betreten.
Stattdessen zeigte
sich die füllige Gestalt von Schwester Käthe im Türrahmen. »Fräulein Gerlach?
Geht es Ihnen besser?«
»Ein wenig.« Ich
senkte meine schweren Lider wieder.
Die Diakonisse zog
sich einen Sessel heran. Etwas Kaltes berührte meine Lippen, Glas oder
Porzellan. »Trinken Sie!«, befahl sie, und weil ich keinen Widerstand leisten
konnte, schluckte ich die lauwarme Flüssigkeit. Kamillentee.
»Hier, bitte!« Sie
reichte mir einen Apfelschnitz. »Essen Sie! Sie dürfen jetzt nicht
schlappmachen!«
Ich richtete mich
auf. »Wie spät ist es überhaupt?«
»Gleich fünf. Sie
haben tief und fest geschlafen.«
Dunkel erinnerte
ich mich an meinen Traum, in dem ein großer bedrohlicher Mann mit geballter
Faust auf mich zugetreten war. Ich hatte in seinem Haus nach einer Leiche gesucht.
Ich wusste, dass er sie dort versteckt hatte, aber er sagte mir nicht, wo.
Schließlich kam ich an die letzte Tür und steckte den Schlüssel in das Schloss.
Doch er ließ sich
nicht drehen.
Weinend rüttelte
ich an der Klinke. Nichts bewegte sich. Der Mann kam immer näher, doch
plötzlich wirkte er nicht mehr bedrohlich. Sein Gesicht zeigte einen sanften
Ausdruck, er hielt mir einen weiteren Schlüssel entgegen. Bevor ich zugreifen
konnte, hatte er sich in Luft aufgelöst.
Jetzt fiel mir
auch wieder ein, was passiert war. »Haben sie ihn gefunden?«
»Manni? Bis jetzt
nicht.« Sie reichte mir noch einen Apfelschnitz.
»Kruse lässt Ihnen
ausrichten, dass er Sie heute Abend in der Bibelstunde vertritt, wenn Sie
unpässlich sind!«
Das weckte meine
Lebensgeister. Ich setzte einen Fuß auf den Boden.
»Kommt gar nicht
in Frage!«, sagte ich, schwang die Beine vom Sofa und stand auf. »Mir geht es
schon wieder viel besser!«
Weit öffnete ich
das Fenster. Die Frühlingsluft strömte herein.
Auf dem Schulhof
hatten Kinder Quadrate auf das Pflaster gemalt und hüpften von einem Kästchen
zum nächsten.
Das Leben ging
weiter. Trotz allem.
DREIZEHN
»Bitte schlagen
Sie Lukas auf. Kapitel fünfzehn«, eröffnete ich die Stunde und machte mich
daran, die Bibeln an die etwa ein Dutzend Anwesenden zu verteilen. Passend zur
aktuellen Situation hatte ich die Geschichte vom Verlorenen Sohn ausgewählt.
Zögernd nahm
Kaminski mir eines der schweren Bücher ab. Alle anderen rührten sich
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