Kohlenstaub (German Edition)
Schwester Tabea den Raum. »Guten Morgen, Herr Kommissar! Darf ich Ihnen
etwas anbieten?«
Kellmann nickte
erfreut. »Einen Bohnenkaffee, bitte! Frisch aufgebrüht, mit Milch und Zucker!«
Ich folgte der
jungen Diakonisse in die Küche. Sie setzte den Wasserkessel auf den neuen Elektroherd.
»Schwester Tabea«,
begann ich. »Wie gut kannten Sie den verstorbenen Pastor Hanning?«
Die Schwester
holte ein Päckchen mit Kaffeepulver aus dem Schrank. »Ich wüsste nicht, was Sie
das angeht«, erwiderte sie schnippisch.
Ich blieb ruhig.
»Dann sage ich es Ihnen: Ich bin als Pastorin Ihre Chefin.«
Das stimmte nicht
ganz. Kruse war rein formal gesehen der Vorgesetzte. Doch Schwester Tabea
schien mir zu glauben.
»Man sollte von
den Toten nur Gutes erzählen. Aber ganz unter uns, die Predigten von Herrn Pastor
Kruse gefielen mir besser«, erklärte sie und drehte mir den Hinterkopf mit dem weißen
Häubchen zu. Wie schaffte sie es, dass diese gestärkte Kopfbedeckung strahlte
wie frisch gebleicht? Mein neuer heller Diolen-Mantel zeigte schon wieder den
typischen Kohlenpott-Grauschleier.
»Aber als Mensch
war Hanning doch sehr nett, oder?«
»Gewiss. Doch er
hatte auch seine Schwächen. Große Schwächen sogar.«
»Welche zum
Beispiel?«
Die junge
Diakonisse goss heißes Wasser durch den Filter.
»Darüber möchte
ich lieber nicht sprechen.«
Bevor ich etwas
erwidern konnte, flog die Tür auf.
»Tach auch!«, rief
Luschinski munter. »Hier riecht’s nach Kaffee!«
»Ja, endlich! Das
wurde aber auch Zeit!«, rief Kellmann vom Flur her. Dann, mit Blick auf den
Reporter: »Ach, der Herr Langschläfer ist auch schon da. Sie sind spät dran,
mein Lieber! Die Suchtrupps sind längst unterwegs!«
»Dann werde ich
wohl auch wieder gehen. Allerdings nicht ohne die junge Dame hier!«
Er wies auf mich.
Galant bot er mir den Arm.
Ich zog den Mantel
über und folgte ihm.
Vor Hannings
Pfarrhaus blieben wir stehen.
»Ich erzähle Ihnen
jetzt eine Geschichte«, begann der Reporter mit einer für ihn ungewöhnlichen
Ernsthaftigkeit. »Die Geschichte dieses Hauses. Eine tragische Geschichte.
Sehen Sie dort, im Erdgeschoss, die zurückgesetzte Mauer?«
Ich nickte.
»Da waren mal
Fensterscheiben drin. Früher, vor dem Krieg. Schaufenster. Hier war ein Gemischtwarenladen,
der gehörte den Lewinskys. Alle in der Siedlung kauften hier ein: Werkzeug,
Schüsseln, Glühbirnen, was man so braucht im Haushalt. Das Geschäft lief gut.
Bis Hitler an die Macht kam. Eines Morgens stand plötzlich ein SA -Mann vor dem Laden. Er hielt ein Schild hoch: ›Hier
kauft man nicht. Das ist ein Judenladen!‹ Als Lewinsky das gesehen hat, ist er
ganz blass geworden, hat die Zähne aufeinandergebissen, und dann hat er vor
sich hin geflucht.«
»Woher wissen Sie
das alles so genau?«
»Meine Mutter hat
es mir erzählt. Ich war ja noch ein kleiner Junge damals. Sie hat im Laden
gearbeitet. Sie hatte dort gelernt und später immer mal wieder ausgeholfen.
Jedenfalls, meine Mutter war an dem Tag auch im Geschäft. Sie wurde dann vor
Gericht geladen und sollte bezeugen, dass Lewinsky die SA beleidigt habe. Er soll gesagt haben: ›Die Hitlerbande, das sind alles Lumpen.‹
Das hat sie abgestritten. Den Lewinsky haben sie trotzdem verhaftet und auf die
Steinwache gebracht, aber nach ein paar Tagen kam er wieder frei.«
»Auf die
Steinwache?«
»Das war im Krieg
das Gestapo-Gefängnis. Es liegt nördlich vom Bahnhof. Dort haben sie die Juden
gesammelt und später abtransportiert. Jedenfalls, am Anfang der Nazizeit, also
1933, war die Polizei noch besser. Sie war nicht immer auf Seiten der SA . Später war dann alles gleichgeschaltet. Als sie
Lewinsky wieder freigelassen hatten, änderte sich alles. Die Leute kauften weniger
in seinem Laden, aus Angst oder aus Feigheit. 1936 wurde der Laden geschlossen,
mit der Begründung, es mangele an Sauberkeit. Dabei war dort immer alles
blitzblank. Lewinskys hatten eine Tochter, die war damals schon erwachsen. Sie
sollte einmal alles erben, das Haus und den Laden. Die Tochter war verheiratet
und arbeitete ebenfalls im Laden. Die Lewinskys wollten sowieso bald aufhören.
Sie waren ja auch schon über sechzig. Die Tochter ist mit ihrer Familie dann
raus, gerade noch rechtzeitig, 1938, in Richtung Holland. Nach Amsterdam
wollten sie. Das Geld hatten sie vom Rabenau.«
»Vom Rabenau?«
»Ja, vom alten
Rabenau. Rabenaus Vater. Er hat ihnen das Geld für das Haus gegeben.«
»Also hat er den
Lewinskys das Haus
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