Kohlenstaub (German Edition)
»Vati! Jetzt komm rein!«,
flüsterte sie. »Nicht, dass Mutti noch wach wird, sie hat vorhin eine Tablette
genommen und ist jetzt endlich eingeschlafen. Und ihr andern: ab nach Hause!«
»Genau! Ab nach
Hause«, wiederholte ich.
Luschinski lehnte
sich über meine Schulter und blies mir seine Fahne in das Gesicht. »Nich zu
dir, Martha? Dasses aber schade!«
»Luschinski!«,
tadelte ich. »Das habe ich jetzt nicht gehört! Und falls doch, habe ich es bis
morgen vergessen!«
Arm in Arm wankten
die beiden Männer davon.
In diesem Moment
bog der schwarze Kater um die Ecke und strich mir um die Beine.
»Koks. Koks!«,
rief Fräulein Kreuter leise. Das Tier maunzte, drehte sich um und verließ das
Haus in Richtung Park. Der buschige Schwanz war das Letzte, was ich sah.
SIEBZEHN
Schemenhaft, in
weiter Entfernung, machte ich einen Menschen aus.
Er kam auf mich
zu, doch anstatt deutlich erkennbar zu werden, erschien er mir immer
unschärfer. Je näher er kam, desto durchsichtiger wurde er. Als er nur noch
wenige Meter entfernt stand, löste er sich auf.
Dann schrie eine
Frauenstimme aus dem Nebel: »Tot! Tot! Tot!« Ein Männerchor antwortete: »Tot.
Ist tot. Ist tot.« Sie riefen einen Namen, irgendetwas mit Ma, aber ich
verstand ihn nicht. Der Wind wehte die Stimmen in Wellen heran.
»Ma… ist tot«,
schrie die Vorsängerin.
Ich lag in einer
dunklen Höhle. Die Welt lastete auf meiner Brust. Die Rettung des Planeten hing
ganz allein von mir ab, doch ich konnte nicht einmal Arme und Beine bewegen,
geschweige denn mich erheben. Ich sah nichts, hörte nur. Draußen kam ein Sturm
auf. Im Brausen vernahm ich wieder den Gesang.
»Tot! Ist tot!«,
sang der Schreckenschor.
»Tot! Ist tot!«,
jammerte der Wind.
Schweißgebadet
erwachte ich.
Martin ist tot,
war mein erster Gedanke. Martin. Mein kleiner Bruder, gestorben vor langer Zeit
während des Kriegs. Durch meine Schuld.
Manni ist tot,
ahnte ich. Mein Untermieter Manni, der so etwas wie mein kleiner Bruder
geworden war, auch wenn er Jahre nach meinem Bruder geboren worden war.
Martin war tot,
zurückgeblieben ohne Begräbnis. War Manni auch tot, verweste an irgendeinem
Ort, den niemand von uns fand?
»Bitte, lieber
Gott. Lass ihn leben!«, flüsterte ich.
Das Morgengrauen
kroch bereits zum Fenster herein. Für einen Moment war mir, als wäre ich im
Bett festgewachsen. Dann atmete ich tief durch, konzentrierte mich auf mein
linkes Bein. Hob es an und schob den Fuß bis zum Boden. Vorsichtig, Stück für
Stück, rollte ich den steifen Oberkörper auf und beugte den Kopf vornüber.
Das rechte Bein
zog ich unter dem Federbett auf die linke Seite und stellte die Zehenspitzen auf
den Fußboden, neben das linke Bein, verlagerte das Gewicht. Mit Mühe schaffte
ich es, mich zu erheben.
Die Zeiger des
Weckers auf dem Nachttisch leuchteten im Halbdunkel.
Es war nicht
einmal sechs Uhr.
Die ungewohnte
Stille im Haus bedrückte mich.
Barfuß tappte ich
in die Küche, füllte den Kessel mit Wasser und setzte ihn auf den Elektroherd.
Längst schon blieb wegen der Frühlingstemperaturen der alte Küppersbusch-Ofen
kalt. Nach Hannings Tod war mir beim Heizen mit Kohle ohnehin mulmig zumute
gewesen.
Kurz bevor der
Kessel anfing zu pfeifen, hob ich ihn von der Platte. Langsam schüttete ich
heißes Wasser durch den Filter in die Kanne. Doch nicht einmal der Kaffeeduft
konnte das klamme Gefühl vertreiben.
Die Wohnzimmertür
war angelehnt. Auf der Couch, unter einer dünnen Decke, lag Rosi und schlief
mit offenem Mund.
Auf Zehenspitzen
schlich ich die knarrende Treppe hinunter und nahm die Zeitung von der Matte.
Im Lokalteil wurde ein weiteres Mal über Mannis Verschwinden berichtet.
»Langsam wird es bedenklich!«, titelte die RuhrRundschau. »Polizei verstärkt
Suche.«
Wann hatte
Luschinski Zeit gefunden, den Artikel zu tippen und abzugeben? Vielleicht am
späten Nachmittag, als ich nach ihm Ausschau gehalten hatte? Jedenfalls mit
Sicherheit vor dem Trinkgelage.
Das Haus erwachte
zum Leben.
Aus der unteren
Wohnung drangen Geräusche, eine Tür schlug. Das Radio spielte eine Melodie. Mir
erschien es jedoch noch zu früh für einen Besuch.
Nach der zweiten
Tasse Bohnenkaffee stieg ich erneut die Treppe hinunter. Dieses Mal klopfte
ich.
Fräulein Kreuter
öffnete. »Vater ist noch nicht auf«, erklärte sie. Das wunderte mich nicht.
»Und Mutter sitzt in der Küche.«
Frau Jankewicz hob
ein wenig den Kopf, als ich durch die Tür trat.
»Er hat sich so
auf das
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