Kokoschkins Reise
Festsaal. Deutsche Weihnachten.»
Hlaváček sagte: «Dieses Dasein auf Abruf muß sehr belastend für Ihre Mama gewesen sein. Wie lange ging das in Saarow so fort?»
«Im Frühling Dreiundzwanzig fuhren Nina und Chodassewitsch nach Berlin zurück, und wir fuhren mit ihnen. Wieder in die Pension Crampe am Viktoria-Luise-Platz.»
«Haben Sie inzwischen das Zimmer gesehen, das Ihre Mama mit Ihnen bewohnte?»
«Ja. Es ist nicht wiederzuerkennen.»
«Kein Wunder, nach so vielen Jahren.»
Kokoschkin sagte: «Lassen Sie uns nach Berlin zurückfahren.»
«Noch heute?»
«Jetzt.»
«In Berlin, im Frühling Dreiundzwanzig, in der Pension Crampe, sprach Chodassewitsch mehrere Male mit Mama über meine Zukunft. Ich war inzwischen dreizehn Jahre alt. Seit unserer Abreise aus Odessa hatte ich keine Schule mehr besucht. Seit einem Jahr keine Schule!»
Chodassewitsch meinte, da wir nun einmal in Deutschland lebten, wäre es das beste für mich, in Deutschland in ein Internat zu gehen. Von der Pension Crampe aus eine Berliner Schule zu besuchen, sei nicht zu raten, weil man nicht wisse, wie lange Mama mit mir in der Pension wohnen könne. Ich dürfe nicht an die Pläne Mamas gebunden sein.
Mama gab Chodassewitsch recht. Sie bezweifelte aber, daß sie meinen Internatsaufenthalt auf Dauer werde bezahlen können.
‹Bezahlen können Sie das Internat überhaupt nicht›, sagte Chodassewitsch. ‹Sie müssen ein Internat finden, das Ihrem Jungen eine Freistelle gibt.›
In ein Internat. Aber wo?
Chodassewitch sagte, Mama könne den Studienrat Kappus am Berliner Grunewald-Gymnasium fragen. Professor Kappus sei ein Kenner und Liebhaber slawischer Sprachen.
Vielleicht war das der Grund, warum sich der Name von Carl Kappus bis zu den Berliner russischen Emigranten herumgesprochen hatte.
Mama fuhr mit mir zum Grunewald-Gymnasium in der Herbertstraße. Wir trafen Professor Kappus. Er sprach mit Mama russisch! Anders hätte Mama ihm gar nicht unsere Geschichte erzählen können. Professor Kappus empfahl Mama, mit dem Rektor des Joachimsthalschen Gymnasiums in Templin zu sprechen. Er heiße Graeber, und ihm wolle er, Kappus, unsere Sache ans Herz legen. Vielleicht gebe es in Templin eine Freistelle für mich.
Zu mir sagte Professor Kappus, es wäre schön gewesen, wenn ich zu ihm ins Grunewald-Gymnasium hätte kommen können, aber er sehe natürlich ein, daß ich in einem Internat besser aufgehoben sei. Auf russisch sagte er das.
«Was hielten Sie davon, als ein Dreizehnjähriger, in ein Internat gesteckt zu werden», fragte Jakub Hlaváček.
«Ich wußte ja kaum etwas über Internate. Aber ich stellte mir vor, daß es schön sein müßte, mit anderen Jungen zusammenzusein. Nicht mehr allein.»
«Wo liegt Templin?»
«In der Uckermark.»
«Wie weit ist es von Berlin entfernt?»
«Ungefähr achtzig Kilometer nordöstlich von Berlin.
Mama meldete uns bei Professor Graeber an, wir fuhren nach Templin. Wie oft habe ich im Laufe meiner Templiner Schulzeit diese Fahrt gemacht.
Den langen Weg vom Bahnhof bis zum Gymnasium am anderen Ende der Stadt, in der Prenzlauer Allee, gingen wir zu Fuß. Mama wollte die kleine Stadt sehen. Wir sahen die Stadtmauer, die Stadttore, den Markt mit dem historischen Rathaus und mit den Fachwerkhäusern.
Endlich erreichten wir das Gymnasium. Das Schulgelände konnte nur durch den Pförtnereingang betreten werden. Mama sagte dem Pförtner auf deutsch, daß wir mit Rektor Graeber verabredet seien. Der Pförtner wies uns den Weg zum Hauptgebäude.
Wir blieben am Rand des großen Innenhofes stehen und sahen drei hufeisenförmig angeordnete Doppelhäuser. In der Mitte des Hofes auf einem Sockel eine Bronzeskulptur. Sie stellte den Gründer des Gymnasiums, Kurfürst Joachim Friedrich, dar.
Von Rektor Graeber hörten wir, in jedem Doppelhaus befänden sich zwei Alumnate. In jedem Alumnat wohnten fünfundzwanzig Schüler.
Wir sahen, daß das mittlere Doppelhaus durch einen Torbogen geteilt ist, der fast bis unter das Dachgeschoß reicht. Auf dem Dach ein Uhrenturm.
Der Rektor, Professor Graeber, empfing uns in seinem großen Dienstzimmer sehr freundlich. Mama sprach französisch mit ihm. Ich konnte nicht alles verstehen. Mama sagte mir später, er habe durch Professor Kappus vom Grunewald-Gymnasium über unsere Situation Bescheid gewußt. Mama sagte auch, seine lockere Art und seine väterlich-fürsorgliche Zugewandtheit habe sie gleich für ihn eingenommen.
Er habe gesagt, im Alumnat Eins sei
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