Kokoschkins Reise
Bleiglasfenster.
Auf dem Bürgersteig. Kokoschkin zeigte auf die Apotheke auf der linken Seite des Hauses. «Gehen wir hinein.»
«Womit kann ich helfen?» fragte die Apothekerin.
«Vor langer Zeit war hier das Restaurant Zum Spaten. Wissen Sie davon?»
«Nein. Aber fragen Sie meinen Chef.»
Der Chef stand neben ihr und sagte: «Ja. Zum Spaten. In diesen Räumen.»
«Es ist schön, daß man es noch weiß», sagte Kokoschkin.
Auf der Straße sagte Hlaváček: «Wer von den russischen Pensionsgästen fiel Ihnen am meisten auf.»
Sie setzten sich auf eine Bank mit dem Blick zur Fontäne.
«Chodassewitsch, der Lebensgefährte von Nina. Ich nannte ihn beim Vor- und Vatersnamen Wladislaw Felizianowitsch. Und er nannte mich Kleinen Fjodor Fjodorowitsch. Das schmeichelte mir sehr. Chodassewitsch galt als unsympathisch, aber ich mochte ihn. Vielleicht ist es teilweise eine nachträgliche Sympathie, weil er nichtnach Sowjetrußland zurückgegangen ist wie andere, zum Beispiel Belyj.
Chodassewitsch war ein schmächtiger Mann, fast dürr. Er trug langes Haar, in der Mitte gescheitelt. Das Haar schwarz. Er hatte ein hageres Gesicht, große Augen. Immer einen Zwicker auf der Nase. Im Gesicht sah er grau aus, vielleicht weil er immerzu Zigaretten rauchte.»
«Und Belyj?»
«Wenn man ihn sah, auf der Straße, auf der Treppe, hatte man das Gefühl, daß er schwebt.»
«Seltsam, von Belyj hört man viel, von Chodassewitsch nichts.»
«Seine Gedichte sind erst nach der sogenannten Perestroika in Rußland erschienen. Als Zwölfjähriger spürte ich, daß er etwas Besonderes war. Erst in den neunziger Jahren habe ich erfahren, daß man ihn als einen der größten Dichter Rußlands ansieht.»
«Die Russen in der Pension blieben wohl meistens unter sich. Ihre Mama und Sie, der zwölfjährige Junge, sprachen kein Deutsch. Hatten Sie nicht das Gefühl, im eigenen Saft zu schmoren?»
«Das weiß ich nicht. Ich hatte dieses Gefühl nicht. Gut, auf dem Viktoria-Luise-Platz, am Springbrunnen, auf der Wiese, die deutschen Kinder nannten mich ‹Russki›. Aber sie hatten Respekt vor mir und haben mit mir gespielt.»
«Hat Ihre Mama nicht versucht, Sie zur Schule zu schicken?»
«Sie hat sich erkundigt und hat erfahren, daß es eindeutsch-russisches Realgymnasium in der Nachodstraße gab, die St.-Georgs-Schule. Ich hätte in diese Schule gehen können, aber ich hatte keine Lust dazu. Mama hat nicht darauf bestanden, weil sie nicht wußte, wie es mit uns weitergehen sollte. Und das Schulgeld hätte sie nicht bezahlen können.
Aber etwas lernte ich doch. Mama hatte in der Motzstraße ein Banjo aufgetrieben. Ich lernte Banjo. Ganz allein. Und dazu habe ich gesungen. Ab und zu gab Chodassewitsch mir Tips. Er kannte sich mit der Balalaika aus. Eine eigenartige Mischung. Ich sang russische Volkslieder zum Banjo!»
«Anfang September sagte Nina zu Mama ‹Wir gehen Ende des Monats nach Saarow›.»
‹Sie gehen von Berlin fort? Um Gottes willen, was soll ich da machen.›
Mama war älter als Nina, aber sie verhielt sich wie die Jüngere. ‹Wo liegt Saarow.›
‹Nicht weit von Berlin. Ungefähr siebzig Kilometer östlich.›
‹Aber warum gehen Sie dorthin.›
‹Dort wird Maxim Gorki sein. Chodassewitsch hilft ihm bei der Herausgabe einer Zeitschrift. Besseda heißt sie.›
‹Mein Gott›, sagte Mama, ‹was soll ich ohne Sie tun.›
‹Kommen Sie und Fjodor doch einfach mit. Saarow ist ein kleiner Ort an einem großen See. Es wird Ihnen und Ihrem Jungen guttun.›
‹Wo sollen wir dort wohnen.›
‹Im Bahnhofshotel. Dort wohnen wir auch. Es ist nicht teuer. Das Zimmer pro Bett eine Mark. Im Hotelrestaurant kann man preiswert essen.›»
Kokoschkin sagte: «Unsere Abreise nach Saarow fand noch lange nicht statt. Das war Mama recht. Sie scheute jeden Ortswechsel. In Berlin, in der Pension Crampe, fühlte sie sich geborgen. Nina und Chodassewitsch fuhren im August drei Tage nach Heringsdorf, wo Gorki sich seit Juni aufhielt. Am fünfundzwanzigsten September zog Gorki mit seinem Anhang nach Saarow. Aber Nina und Chodassewitsch waren Mitte November noch immer in Berlin.
Als wir mit den beiden nach Saarow aufbrachen, roch die Luft schon winterlich.
Wir fuhren mit zwei Autodroschken zum Schlesischen Bahnhof. Gepäckträger brachten die Koffer zum Bahnsteig.
Plötzlich fing Mama an zu weinen.
‹Was ist mit Ihnen›, fragte Chodassewitsch.
‹Hier sind wir angekommen, und jetzt habe ich das Gefühl, daß wir den
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