Kokoschkins Reise
konnte ich mich in Österreich, in der Schweiz, in England, in den USA …
Ich brauchte ein Stipendium …
So dachte ich, aber weiter dachte ich noch nicht. Sie wissen, wie es weiterging.»
«Wie es weiterging, weiß ich», sagte Hlaváček. «Aber ich weiß nicht, wie es dazu kam, daß es weiterging.»
«Ich ging in einer Gefühlsmischung aus Verzweiflung, Größenwahn und Erleuchtung zur amerikanischen Botschaft. Dem Kulturattaché sagte ich, ich sei Fjodor Fjodorowitsch Kokoschkin, Neunzehnhundertachtzehn mit Mama aus Petersburg nach Odessa geflüchtet, nachdemmein Vater, Minister in der Kerenski-Regierung, von den Bolschewisten ermordet worden war. Neunzehnhundertzweiundzwanzig sei ich mit Mama nach Deutschland gekommen. Ich hätte nach dem Besuch des Gymnasiums fast sechs Semester Biologie in Berlin studiert. Bald nach der Machtübergabe an Hitler sei ich nach Prag gegangen, wo ich hätte weiterstudieren wollen. Aber meine materielle Situation sei katastrophal. Deshalb wolle ich mich um ein Stipendium in den USA bewerben, und ich erbitte ein Visum für die Einreise in die Vereinigten Staaten.
Der Kulturattaché verstand Deutsch. Er fragte mich, ob ich Bekannte oder Freunde hätte, die meine Darlegung glaubhaft bestätigen könnten.
Ich sagte, ein Bekannter meines Vaters könne meine Angaben bestätigen, soweit sie sich auf meinen Vater bezögen. Er heiße Alexander Kerenski, ehemals Ministerpräsident der Provisorischen Regierung von Rußland, wohnhaft in Paris. Was mich persönlich betreffe, so möge man den russischen Dichter Wladislaw Chodassewitsch befragen, der Mama und mich aus unserer Zeit in Berlin kenne. Er wohne ebenfalls in Paris.
Der Kulturattaché verbarg nicht, daß er beeindruckt war. Er sagte, er wolle mir helfen.
‹Zuerst brauchen wir die Voten der Herren Kerenski und Chodassewitsch. Ich wende mich an unsere Botschaft in Paris, die Kontakt zu beiden Herren aufnehmen kann. Dann schreiben wir den Antrag auf ein Stipendium einer amerikanischen Universität. Wenn das Stipendiumgewährt wird, bekommen Sie von uns ein Visum für die Einreise in die Staaten.›
Ich hatte das Gefühl, ich träume. Mir war allerdings bewußt, daß ich auf die Wirkung der Namen meines Vaters, Kerenskis und Chodassewitschs spekuliert hatte. Das erschien mir nicht ganz in Ordnung. Andererseits: Warum hätte ich es nicht tun sollen. Schließlich war ich der Sohn meines Vaters, schließlich war Vater Minister gewesen, schließlich kannte mich Chodassewitsch.
Der Kulturattaché sagte, ich müsse allerdings Geduld aufbringen. Man wisse nicht, wann die Antworten von Chodassewitsch und Kerenski einlangten, wenn überhaupt. Und eine Antwort auf die Bewerbung um ein Stipendium könne man höchstens nach zwei Monaten erwarten.
Es war inzwischen August geworden in Prag. Ich stellte mich auf eine Wartezeit von drei bis vier Monaten ein. Den Winter Dreiunddreißig Vierunddreißig müßte ich in Prag zubringen, dachte ich.
In dem beruhigenden Gefühl, einen Ausweg gefunden zu haben, schrieb ich an Aline, sie möge mich doch in Prag besuchen. Ich wollte auch erfahren, wie es Alines Vater nach dem Verbot der SPD ergangen war.
Ich schrieb an Mama in Paris. Es gehe mir gut. Ich hätte Arbeit in einem Restaurant und eine Bleibe. Die amerikanische Botschaft in Prag werde sich an Chodassewitsch wenden. Sein Votum für mich brauchte ich für einen Stipendienantrag. Von meiner Absicht, in die USA zu reisen, schrieb ich nichts.
Der Chef des Restaurants gab mir eine Woche frei. Ich buchte in einer einfachen Pension für eine Woche ein Doppelzimmer.
Ich holte Aline vom Hauptbahnhof ab. In Prag herrschte der schönste Spätsommer. Aline war unbeschwert oder tat so. Ich sagte, das Zimmer in der Pension könne ich nicht bezahlen. Sie lachte und klopfte auf ihre Handtasche. Wir aßen in schlichten Restaurants. Aline sagte, sie liebe die böhmische Küche, und sie zeigte es.
Ihr Vater, sagte Aline, habe gesagt: ‹Wären wir doch alle mit Fjodor nach Prag gegangen.› Er fürchte, festgenommen zu werden wie andere SP D-Mitglieder .
Aline und ich lebten wie Touristen. Wir schlenderten über die Karls-Brücke und blieben bei jeder Brückenfigur stehen. Vor der Statue des heiligen Nepomuk erzählte ich Aline, was ich gehört hatte: daß Nepomuk Dreizehnhundertdreiundneunzig auf Befehl von König Wenzel dem Vierten gefoltert und von der Karls-Brücke in die Moldau gestürzt worden sei.
‹Warum?›
‹Weil er die Rechte der Kirche
Weitere Kostenlose Bücher