Kolibri
sickert: verschwunden. Die Büromöbel: in Nichts aufgelöst. Es gibt nur noch leise, einlullende Musik, die von überallher zu kommen scheint, angenehmes Dämmerlicht, hell genug, um sich zu erkennen, nicht hell genug, um alle Geheimnisse zu enthüllen. Sie schauen sich in die Augen und ihre gemeinsame Vergangenheit verdichtet sich in diesem einen Blick: die Parties, die Streitereien, der Einkaufswahnsinn am Samstagnachmittag auf der Mariahilfer StraÃe. Der Geruch ihrer Achselhöhlen, der Geschmack seiner Haare. Ihre kleinen Brüste, seine weichen Hände. Er senkt seinen Kopf, sie hebt den ihren. Sie küssen einander, lösen ihre Lippen, ziehen sich zurück.
Sie: âBruder.â
Er: âSchwester.â
Dann lachten sie beide.
âTutâs dir jetzt leid?â
âNein, dir?â
Kopfschütteln.
âHat früher nicht mit uns beiden geklappt, warum sollte es das jetzt?â
âGenau.â
âIst dir kalt?â
âEin bisschen.â
âKomm her.â
âSo?â
âNäher.â
âBesser?â
âJa.â
Während der nächsten knappen Stunde lagen sie auf dem Sofa, er in ihren Armen, sie in den seinen, und lauschten der Musik. Das dumpfe Gemurmel der Demonstranten war wieder zu hören, das grelle Licht der Scheinwerfer sickerte wieder durch die halbheruntergelassenen Jalousien, die Büromöbel waren auf wundersame Weise wieder aufgetaucht. Da lagen sie, schweigend, und als die Sonne sich langsam zeigte, hoben sie ihre Köpfe, gerade hoch genug, um nichts von dem Spektakel zu verpassen, aber nicht so hoch, dass sie nicht mehr hätten bequem liegen bleiben können. Ein fahler gelber Streifen zeichnete sich hinter den Gräbern ab, das nikotinverfärbte Schnurrbarthaar eines alten Mannes. Der Streifen wurde breiter und greller, aus dem fahlen Gelb wurde ein kräftiges Orange, das flimmernd bauchiger wurde und begann, am Himmel nach oben zu flieÃen. Da lagen sie, er in ihren Armen und sie in den seinen, und er schaute sie an und wusste, dass er sie nicht mehr liebte, jedenfalls nicht mehr so, wie er es früher getan hatte, aber er wusste auch, dass auf der Landkarte seines Herzens ein groÃes Gebiet immer Maria heiÃen würde.
ACHTUNDZWANZIG
Als Fritz Drechsler erwachte, brauchte er erst einmal ein paar Sekunden, um sich zu orientieren. Er hatte schlecht geschlafen und grässliches Zeug geträumt. Maria, inmitten einer einstürzenden Fabrik, Flammenzungen hüllten sie ein, Rauch umwaberte sie, sie streckte ihre Arme aus, aber Drechsler schaffte es nicht, bis zu ihr vorzudringen. Er rieb sich die verklebten Augen, kämpfte sich aus dem Liegestuhl, setzte sich auf dessen Kante und blickte sich um. Die Stühle links und rechts neben ihm waren leer, von Widmaier, den beiden Ãrzten und dem Windhund keine Spur. Er gähnte, strich sich die Haare aus dem Gesicht und kratzte sich am Bart. Mit einem leichten Seufzer stand er auf, seine Knie gaben knackende Geräusche von sich, und machte ein paar Lockerungsübungen. Dann warf er einen Blick auf die Uhr, kurz vor sechs, und holte eine Zigarette aus der zerknautschten Packung, die in der Vorder-tascheseinerJeans steckte. Friedlich rauchend betrachtete er die langsam in den Himmel steigende Sonne, die trotz der frühen Stunde schon ziemlich warm strahlte, und dieser so gewöhnliche wie erhabene Anblick vertrieb die letzten schwarzen Traumschleier aus seinem Kopf.
Leicht fröstelnd machte er sich auf die Suche nach einem Verpflegungsstand. Er brauchte unbedingt einen Kaffee. Während er auf dem Boden schlafenden Journalisten, in kleinen Gruppen beisammenstehenden Polizisten und im Hocken vor sich hindösenden Technikern, die ihre Geräte umklammert hielten wie eine verloren geglaubte Geliebte, auswich, dachte er an den Auftritt von Karl Michael Baumgartner auf der Terrasse von Amnat zurück. Vielleicht war es eine optische Täuschung gewesen oder sein Unterbewusstsein spielte ihm einen grausamen Streich, aber Drechsler hatte während der ganzen Zeit das deutliche Gefühl gehabt, dass Maria im Schatten der Terrassentür gestanden und Baumgartners Vorstellung genossen hatte. Und als Baumgartner dann zurück ins Büro gegangen war, hatte Drechslers Fantasie übernommen und aus Marias vermutlich schlichter Bewunderung für Baumgartners Gesangeskünste hatte sich eine innige Umarmung und mehr entwickelt.
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