Kolibri
War er der unfreiwillige Zeuge eines Wiederaufflammens einer alten Beziehung geworden? Bei dem Gedanken verstärkte sich Drechslers Frösteln und das hatte nichts mit seiner Müdigkeit zu tun.
SchlieÃlich entdeckte er Widmaier, die beiden Ãrzte und den Hund beim Verpflegungsstand des Roten Kreuzes. Die beiden Jünglinge, die ihnen in der Nacht so groÃzügig die Liegestühle geborgt hatten, waren nicht zu sehen, was Drechsler nicht störte, denn dann musste er sie nicht sofort wieder herschleppen. Er nickte Widmaier zu, bedachte Kollaritz und Lehner mit einem schlappen Winken und kraulte Nubia, die an ihm hochsprang und ihn hechelnd und mit groÃen Augen anschaute, hinter den Ohren, was ihr ein leises Knurren entlockte.
âWo haben sie dich denn ausgegraben?â, fragte Widmaier und nahm einen Schluck aus seiner Red Bull-Dose.
Drechsler wollte mit einem coolen Spruch kontern, aber ihm fiel nichts ein. Ohne Koffein am Morgen war sein Hirn unbrauchbar. Er lehnte sich an die schmale Theke, deutete auf den an der Scheibe klebenden Zettel mit der Aufschrift Kaffee und sagte: âGroÃ.â Die junge Frau hinter der Theke, eine kleine Schwarzhaarige, die unverschämt ausgeschlafen wirkte für diese frühe Stunde, nickte, drückte ein paar Knöpfe an einer chromblitzenden Maschine und reichte Drechsler wenige Sekunden später eine dieser groÃen Schalen, aus denen die Film-Franzosen immer ihren Kaffee tranken und die aussahen wie mittelalterliche Nachttöpfe. Er nahm einen Schluck, seufzte vor Behagen, nahm noch einen Schluck, und langsam spürte er, wie das Leben zurück in seinen Körper strömte.
âBesser?â, fragte Kollaritz, der, wie sein Kollege Lehner, eine Tasse Tee vor sich stehen hatte, aus der das Bändel des Beutels heraushing.
Drechsler nickte, trank noch einen Schluck Kaffee und schaute sich um. Die ganze Situation wirkte unreal. Da drüben, nur durch eine StraÃe und ein paar klapprige Absperrgitter getrennt, befand sich ein Bombenleger, der eine Geisel in seiner Gewalt hatte â auch wenn es sich dabei um seine Exfreundin handelte, der er vermutlich nichts antun würde â, und hier, auf dem Platz vor dem Zentralfriedhof, schliefen Menschen friedlich auf dem Boden, während eine Postkartensonne die letzten dunkelblauen Reste vom Himmel fegte. Weiter hinten, jenseits der Absperrung, harrten nach wie vor die Demonstranten aus, die meisten schliefen, einige hockten in kleinen Grüppchen beisammen, ab und zu rief jemand einen Spruch, der in der Stille gespenstisch widerhallte. Plötzlich merkte Drechsler, dass er grinste. Verdammt, es würde einfach ein herrlicher Tag werden und in wenigen Stunden, sollte nichts Unvorhergesehenes mehr passieren, würde er Maria wiedersehen, nein, nicht nur sehen, diesmal würde er nicht so zurückhaltend sein, er würde sie in den Arm nehmen und ihr all die Dinge sagen, die ihm in den letzten paar Stunden im Kopf herumgespukt waren. Vorausgesetzt, sie wollte sie hören. Vorausgesetzt, sie und dieser Baumgartner spieltenda drinnen nicht Romeo und Julia. Er spürte, wie die Wut sich langsam in ihm breit machte, vor allem, weil er nichts tun konnte. Nun, das stimmte nicht ganz. Er konnte Kollaritz fragen, was er von der ganzen Sache hielt, immerhin war der Arzt, soweit Drechsler das mitbekommen hatte, Baumgartners bester Freund und als solcher würde er Maria wahrscheinlich kennen. Kollaritz konnte ihm sicher sagen, ob eine realistische Möglichkeit bestand, dass zwischen den beiden wieder etwas lief oder nicht.
Er drehte sich um, entdeckte Kollaritz ein paar Meter entfernt und wollte eben zu ihm gehen, als zwei Männer an den Stand kamen, die sich lautstark unterhielten. Den einen kannte Drechsler. Es war dieser Reporter, der ausssah, als würde er in einem Afrika-Epos mitspielen. Der andere war offensichtlich ein Techniker, er trug ein zusammengerolltes Kabel in der Hand, eine kleine Taschenlampe und ein Leatherman steckten in kleinen Etuis an seinem Gürtel und aus seiner Hosentasche lugte die Kante eines DV-Tapes hervor.
âWir müssen diese Geschichte so richtig groà aufziehenâ, sagte der Reporter, der, falls Drechsler sich richtig erinnerte, Penner hieà oder so ähnlich. âSo richtig richtig groÃ, verstehst du?â
Der Techniker nickte und schwieg.
âNicht einfach nur groÃ, verstehst du, das muss, wie soll ich sagen
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