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Kolibri

Kolibri

Titel: Kolibri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Benvenuti
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Wasser über seine Finger rinnen ließ und sich geistesabwesend Gesicht und Oberkörper wusch. Er vermied es, in den Spiegel zu schauen, er wusste, wie er aussah, furchtbar, kein Wunder, er war seit fast vierundzwanzig Stunden auf den Beinen, von dem kurzen, alkoholinduzierten Schläfchen gestern Nachmittag mal abgesehen. Zum Schluss gurgelte er mit einem Schluck lauwarmen Wassers, seine Version des Zähneputzens an diesem Morgen, riss ein paar Kästen auf, fand ein flauschiges gelbes Handtuch und rubbelte sich trocken. Nun fühlte er sich schon beinahe wieder wie ein Mensch.
    Auf dem Weg zurück ins Büro kam er an einem weiteren Kasten vorbei, ein hoher, zweitüriger, den er ebenfalls öffnete, denn mittlerweile war ihm, so ganz ohne T-Shirt, ein wenig kalt, und er hoffte, ein sauberes Hemd zu finden, was auch der Fall war. Fein säuberlich auf Kleiderbügel gehängt, reihte sich ein frischgebügeltes, monogrammverziertes Stück ans nächste. Karl griff sich das erstbeste, schlüpfte hinein, krempelte die Ärmel hoch, rollte mit den Schultern und fühlte sich unwohl. Dieses zugeschnittene und zusammengenähte Stück Stoff hier gehörte Patrick Berger, einem Mann, der für beinahe alles stand, was er, Karl Michael Baumgartner, verachtete. Er wollte kein Hemd eines solchen Menschen tragen. Wütend riss er es sich vom Leib, warf es zurück in den Kasten und trat die Tür zu, dann ging er ins Büro, suchte sein T-Shirt, fand es neben dem Schreibtisch auf dem Boden liegend wie die Haut einer kurzen und ziemlich übergewichtigen Schlange, streifte es sich über und schaffte es sich einzureden, dass der Schweißgeruch, den es verströmte, so schlimm eigentlich gar nicht war. Zumindest war ihm jetzt ein wenig wärmer. Rastlos tigerte er im Büro hin und her und stolperte über die Fernbedienung. Er hob sie auf, schaltete den Fernseherein, ließ sich auf dem Stahlfass, das nach wie vor mitten im Raum stand, nieder und zappte durch die Kanäle in der Hoffnung auf ein anständiges Rockvideo, das die Müdigkeit aus seinem Körper und den Nebel aus seinem Gehirn vertreiben würde.
    Maria stand am Fenster, drückte die Lamellen der Jalousie auseinander und warf einen Blick nach draußen. Obwohl sie nicht allzu viel erkennen konnte, der Winkel war ungünstig, spürte sie doch die entspannte, beinahe friedvolle Atmosphäre da unten auf dem Platz vor dem Zentralfriedhof. Jetzt wäre eigentlich der richtige Zeitpunkt, dachte sie und drehte sich um. Die zurückschnalzenden Lamellen verursachten ein scharfes, metallisches Geräusch, das sich in Marias Gehirn fräste. Sie war müde, sie war hungrig, sie war ungewaschen und sie war der Meinung, dass jetzt, in dieser Sekunde, solange da unten noch alles so friedlich war, der richtige Zeitpunkt für Karl gekommen war, seinen Kampf zu beenden.
    â€žDu solltest aufgeben“, sagte sie.
    Karl, der ganz gebannt auf den Fernseher starrte, reagierte nicht.
    â€žDu hast alles erreicht, was du wolltest“, fuhr Maria fort. „Dein Standpunkt ist klar gemacht, und so, wie die Sonne jetzt bereits runterbrennt, sind diese blöden Rosenblüten“, Karl hatte sie über sein Vorhaben informiert, vorhin, auf dem Sofa, „doch schon längst gegrillt. Du hast Berger deinen Denkzettel verpasst. Jetzt ist es Zeit runterzugehen und den Polizisten die Lage zu erklären.“
    Ohne ein Zeichen, dass er irgendein Wort von Maria verstanden hatte, deutete Karl auf den Fernseher und sagte: „Schau mal, die haben schon eine Viertelmillion Euro gesammelt, und das in der kurzen Zeit.“ Er drehte sich zur Seite, musterte Maria, die vor dem Fenster im Zwielicht stand, und sagte: „Du willst, dass ich aufgebe?“ Zeigefinger Richtung TV. „Ich warte, bis die Million da ist, dann gebe ich auf. Vorher nicht.“
    Maria zuckte mit den Schultern und sagte: „Wie du willst, es ist deine Angelegenheit.“
    â€žRichtig“, sagte Karl und wandte sich wieder dem Fernseher zu. Er war überrascht von dem Spektakel, das sich da auf dem Stephansplatzabspielte, überrascht, und ein wenig geschmeichelt fühlte er sich auch. All diese Leute, die geduldig hinter den Absperrgittern anstanden, um spenden zu dürfen, das Podest mit den zwei Treppen, die riesige Plastik- oder Glaskugel, die rote Digitalanzeige, das auf Hochglanzpapier ausgedruckte Schild mit der

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