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Kolibri

Kolibri

Titel: Kolibri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Benvenuti
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Fenster.
    Kollaritz holte sich den anderen Stuhl und setzte sich neben Karl. „Was denn?“
    Karl seufzte. „Ich mag Wien.“
    â€žAch was?“, sagte Kollaritz und stippte seinen Teebeutel in die Tasse.
    â€žAls ich letzten Sommer nach Costa Rica geflogen bin, war ich heilfroh, wegzukommen. Die Sache mit Maria ging mir auf die Nerven und von Wien hatte ich die Schnauze voll. Jetzt merke ich plötzlich, dass ich diese Stadt mag.“ Er drehte sich um und wandte sich Kollaritz zu.
    Kollaritz zog den Teebeutel aus seiner Tasse und ließ ihn mit einem schmatzenden Geräusch auf die Tischplatte fallen. Dann schaute er Karl in die Augen und sagte: „Du solltest kündigen.“
    Karl grinste. „Du bist schon der zweite heute, der mir das sagt.“
    â€žWenn dir zwei Leute an einem Tag denselben Rat geben, solltest du ihn beherzigen“, sagte Kollaritz. „Such dir einen Job, der dir Spaß macht. Oder tu eine Zeit lang gar nichts, pachte einen Schrebergarten und schau den Blumen beim Wachsen zu.“
    Karl fuhr sich mit der Hand über den Hals und hüstelte. „Das geht nicht“, sagte er. „Ich kann nicht hier bleiben. Ich hab Rocín mein Versprechen gegeben.“
    â€žUnd dieses Versprechen gegenüber einem alten Mann, den du knapp fünf Monate gekannt hast, ist wichtiger als ein glückliches Leben?“
    Karl starrte auf den Boden. „Du verstehst das nicht“, sagte er leise.
    â€žRichtig“, sagte Kollaritz, „ich versteh’s nicht.“ Nachdenklichstand er auf, ging zum Kasten, kramte ein bisschen in den Schachteln herum und reichte Karl eine Packung Clarytin.
    â€žUnd das wirkt?“, fragte Karl und beäugte die weiße Schachtel mit der roten Schrift.
    â€žAuf jeden Fall besser als diese Voodoo-Pillen, die der Firmenarzt dir gegeben hat. Eine am Tag, am besten beim Frühstück.“
    Die nächsten paar Minuten saßen sie in angenehmem Schweigen, dann plauderten sie über dies und das, tranken ihren Tee, lauschten dem Heulen des Windes vor dem Fenster. Schließlich schob Karl seine leere Tasse in die Mitte des Tisches, erhob sich und sagte: „Ich werd dann gehen.“
    Kollaritz stand ebenfalls auf und begleitete Karl zur Tür. Nachdem Karl in seinen Regenmantel geschlüpft war, vergewisserte sich Kollaritz, dass Karl die Tabletten eingesteckt hatte, legte ihm die Hand auf den Unterarm und räusperte sich.
    â€žSpuck’s schon aus“, sagte Karl.
    â€žDu solltest dich weniger um den Traum eines alten Mannes und mehr um dein eigenes Leben kümmern“, sagte Kollaritz.
    Karl dachte ein paar Sekunden nach, lächelte dann und klopfte Kollaritz auf die Schulter. „Bis dann.“
    Er fuhr am Donaukanal entlang Richtung Neunten Bezirk, warf ab und zu einen Blick hinüber auf das andere Ufer, das von protzigen Hochhäusern, die Versicherungsgesellschaften und Banken beherbergten, gesäumt war, atmete die vom Regen gekühlte Luft ein und versuchte, an nichts zu denken.
    Als er zu einer der zahlreichen Baustellen kam, die den Radweg teilweise in einen Hindernisparcours verwandelten, bremste er und blieb schließlich stehen. Er schob das Rad bis vor zur Kante, legte es auf den Boden, setzte sich daneben und blickte hinaus auf den Kanal. Kleine Blasen stiegen im Wasser auf und zerplatzten an der Oberfläche, die schnittigen Metallboote der Wiener Feuerwehr dümpelten sanft auf den Wellen, der Wind trug den Gestank von Pisse vom graffitiverschmierten Abgang der U2, der hinter ihm lag, herüber.Karl seufzte, zog die Beine an und schlang die Arme um die Knie. Er wohnte jetzt seit beinahe einem halben Jahr im Neunten Bezirk und noch immer vermisste er den Sechzehnten. Als er nach Costa Rica gegangen war, hatte er seine Mietwohnung aufgegeben und fast alles, was er besessen hatte, verkauft. Nach seiner Rückkehr im Jänner hatte er vergeblich nach einer Wohnung in seinem alten Bezirk Ausschau gehalten und sich schließlich mit einer netten Zwei-Zimmer-Altbauwohnung im Neunten zufrieden geben müssen. Er vermisste den Brunnenmarkt mit seinen Obst- und Gemüseständen, die zahlreichen türkischen Restaurants, die unendlich viele Fleischgerichte auf der Karte hatten, die Wettbüros, vor denen Tag und Nacht unrasierte Männer mit verschlossenen Gesichtern herumlungerten. Er vermisste die Aktionsmärkte, die bis in den letzten Winkel mit preiswertem

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