Kolibri
staatliche Fernsehen gemeint, dessen Name niemals ausgesprochen wurde. Jeder und jede, der oder die sich dieses Sakrilegs schuldig machte, musste einen Euro in das kleine Aquarium werfen, das im Sekretariatszimmer stand. Mit dem Geld, das sich im Moment darin befand, konnte man sich üppige eineinhalb Wurstsemmeln kaufen.
Maria seufzte. Bei dem geschätzten Kollegen handelte es sich um Paulus Penninger vulgo Paulus der Penner, ein Spitzname, den erseiner Vorliebe für Safariwesten, seinem schütterem Barthaar und seiner moralischen Verkommenheit verdankte.
âNur damit ich das richtig versteheâ, sagte Maria, rollte die Infoillustrierte zusammen und schlug damit im Takt ihrer Worte auf die Tischplatte, âPaulus der Penner hat einen Interviewtermin mit Hermann Maier und Sie wollen, dass ich diesen Termin wahrnehme.â
Distel lachte und zwinkerte ihr zu. âSie habenâs auf den Punkt gebracht.â
âUnd was ist mit Paulus dem Penner?â
âLassen Sie sich was einfallen.â
Distel warf einen letzten Blick in die Runde, schaute kurz auf seine flache goldene Uhr, kramte eine kleine rote Tablette aus dem Döschen, das vor ihm auf dem Tisch stand, und würgte sie grimassierend hinunter. Dann hob er den Kopf und sagte: âWas ist? Hopp hopp, auf, an die Arbeit.â
Die beiden Volontäre waren praktisch in derselben Sekunde bei der Tür drauÃen, gefolgt von Hans Ainhorn und Isabella Krause, die Maria die Hand auf die Schulter legte, ehe sie ebenfalls in die vergleichsweise kühle Luft des Gangs trat.
Maria erhob sich, machte die Tür von innen zu und lehnte sich dagegen. Distel verstaute gerade seine Sachen in seiner Aktentasche und hob erstaunt den Kopf. âJa?â, sagte er.
Maria ging mit kleinen, zögernden Schritten zum Tisch und stützte sich mit beiden Händen an der Kante ab. âIch möchte mit Ihnen reden.â
âWorüber?â, fragte Distel. Er legte die Aktentasche neben sich auf den Tisch und schaute sich um, ob er nichts liegen gelassen hatte.
âÃber meine Arbeitâ, sagte Maria.
Distel massierte sich die Nasenwurzel mit zwei Fingern und nickte. âSetzen Sie sichâ, sagte er und deutete auf den Sessel neben sich, âich komme gleich.â
Er verschwand in der winzigen Küche. Maria hörte, wie er den Kühlschrank öffnete und mit einigen Flaschen herumhantierte. Siesetzte sich und blickte aus dem Fenster. Linker Hand glitzerte die Urania in der Sonne, rechts, schräg gegenüber, wurden die Strahlen von der Stahl- und Chromfassade des Hochhauses zurückgeworfen, das das beste, wichtigste und meiste wöchentliche Nachrichtenmagazin Ãsterreichs beherbergte. Während die gesamteuropäischen Ausgaben von
Time
oder
Newsweek
es gerade mal auf schwachbrüstige siebzig Seiten, Werbung inklusive, brachten, ging beim besten, wichtigsten und meisten Nachrichtenmagazin Ãsterreichs nichts unter 250 Seiten pro Woche, womit mal wieder bewiesen war, warum und dass es sich bei Wien um der Welt bedeutendste und vielleicht sogar einzige Metropole handelte.
Vor einem halben Jahr, als sie bei VC-TV angefangen hatte â Vienna City TV für die Angestellten, Vietcong für ihre Feinde â, hatte sie in einer Traumwelt gelebt. Den ganzen Tag durch die Gegend düsen, interessante Leute interviewen, Schweinereien aufdecken, den Mächtigen einen Tritt zwischen die Beine verpassen, das Sprachrohr der Ohnmächtigen sein. Das hatte sich gut angehört, wenn sie es mehrmals am Tag leise vor sich hingemurmelt hatte. Die Wirklichkeit war nicht ganz so spannend. Nicht, dass sie sich beklagte, nein, das nicht. Sie mochte ihre Arbeit. Da der Sender sehr klein war, gab es eine flache Hierarchie, und solange sie jeden Tag ihre Beiträge ablieferte, hatte sie mehr oder weniger Narrenfreiheit. Unter den Redakteuren herrschte eine Art entspannter Konkurrenzkampf, der gut für die Förderung der eigenen Selbständigkeit war. Niemand wollte Showbiz machen, na ja, niemand, der mehr als drei Gehirnzellen besaÃ, und selbst die konnten leicht eines schnellen Todes sterben, wenn sie zu oft dem geistlosen Gewäsch der Reichen, Schönen und Mächtigen ausgesetzt waren. Als sie sich für den Job beworben hatte, hatte Distel sie gefragt, ob es ihr was ausmache, ein paar Monate etwas seichtere Kost zu liefern, und die Art und Weise, wie er sie dabei angeschaut hatte, hatte ihr klar
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