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Kolibri

Kolibri

Titel: Kolibri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Benvenuti
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erstreckt sich ein Meer aus purpurfarbenen und weißen Knospen.
    â€žCattleya skinneri“
, sagt Rocín mit stolzgeschwellter Brust und beschreibt mit der Hand einen Halbkreis. „Im Frühling, wenn sie blühen, wirst du glauben, du siehst Wolken mit purpurnen Herzen drin.“
    Sie schreiten die Plantage ab. Karl betrachtet die sorgfältig gestutzten Bäume, die den Orchideen als Unterpflanzen dienen, mustert die dichte, mannshohe Hecke aus schnellwachsendem Immergrün, das die knapp fußballfeldgroße Fläche umschließt und vor neugierigen Blicken schützt.
    â€žHast du keine Angst vor Dieben?“, fragt Karl schließlich, der sich ausgerechnet hat, dass hier ein Vermögen in Orchideen vor ihm liegt.
    Rocín schüttelt lächelnd den Kopf, nimmt Karl am Arm und führt ihn zu einem winzigen Bretterverschlag, der fast vollständig vom Immergrün überwuchert ist. Der Verschlag ist knapp zwei Meter lang, einen Meter tief und einen halben Meter hoch. Karl entdeckt eine Strohmatte, eine dünne Decke, einen Krug und eine Machete.
    â€žDu schläfst hier?“, fragt er.
    Rocín nickt und greift nach der Machete, deren unterarmlange Klinge im verglühenden Sonnenlicht bedrohlich funkelt. „Wenn jemand meine Orchideen stehlen will …“ Er macht mit der Machete eineschnelle Hackbewegung und Karls Fantasie reicht aus, um Mitleid mit einem potentiellen Dieb zu haben.
    Karl verbringt nun fast jeden Abend mit Rocín. Sie sitzen auf der Lichtung, Rocín raucht und hört Karls in holprigem Spanisch vorgetragenen Klagen zu. Hier sei er nun, meint Karl, und nach weniger als zwei Monaten sei ihm schon klar geworden, dass er nicht zum Forscher tauge. Die ausstehenden vier Monate erschienen ihm noch quälend lang und die verdammte Einsamkeit mache ihn fertig. Rocín schweigt fast die ganze Zeit über, nur einmal, da nimmt er die Zigarette aus dem Mund, nickt und sagt:
„La soledad es una puta.“
    So vergehen die Tage, die Wochen gleiten ineinander über. Tagsüber erledigt Karl halbherzig und geistesabwesend seine Arbeit, die Abende und Wochenenden verbringt er mit Rocín. Je weniger Zeit ihm in Costa Rica bleibt, desto stärker wird das Zerren in seinem Herzen. An einem Freitag nehmen sie den Bus nach San José und auf der ganzen Fahrt über schwärmt Rocín Karl von einer großen, einer riesigen Orchideenplantage vor, einer richtigen Farm, endlose Baumreihen, die sich in alle Richtungen bis zum Horizont erstrecken und über und über mit purpurnen und weißen Blüten bedeckt sind. Karl lauscht Rocíns Ausführungen, und plötzlich kommt er sich vor wie damals als Kind, als er mit seinem Vater ins Burgenland gefahren ist. Er kann sich nicht mehr erinnern, was sie dort gemacht haben, und das ist auch nicht wichtig, wichtig ist nur, er sitzt neben seinem Vater und sie unterhalten sich prächtig.
    In der Hauptstadt angekommen, macht sich Rocín auf der Toilette des Coca-Cola-Busterminals schick und sagt zu Karl, er solle hier warten, er komme in zwei Stunden wieder. Karl wandert durch die schäbigen Gassen, die Schultern hochgezogen, die paar dünnen
colones
mit schweißnassen Fingern umklammernd, bereit, sie einem Straßenräuber ohne Gegenwehr auszuhändigen.
    Schließlich, der Nachmittag neigt sich dem Ende zu, taucht Rocín wieder auf und Karl spürt sofort, dass etwas nicht stimmt. Der Kubaner ist schweigsam, er lächelt nicht, flucht ein-, zweimal leisevor sich hin, und als sie wieder im Bus nach La Perla sind, hat Karl das Gefühl, neben einem wirklich alten Mann zu sitzen, einem Mann, der keinen Traum mehr in seinem Herzen hat. Nach fast fünf Stunden, der Bus fräst sich durch stockdunkle Nacht, bricht Rocín das Schweigen. Die Banken, meint er, gewähren ihm keinen Kredit. Er hat ihnen seinen Plan mit der Farm erklärt, aber die Männer in den teuren Anzügen hätten nur gelacht und den Kopf geschüttelt. Und Karl, dem in einer Art Panik einfällt, dass sein Stipendium in zwei Wochen ausläuft, hört sich zu seinem eigenen Erstaunen sagen: „Ich besorg uns das Geld. In spätestens einem Jahr bin ich wieder zurück und dann kaufen wir eine Farm.“ Und Rocín tut etwas, an das Karl sich immer erinnern wird. Er dreht sich zu ihm, streicht ihm sanft übers Haar und küsst ihn auf den Kopf. Und in diesem Moment, während sie im Bus

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