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Kolibri

Kolibri

Titel: Kolibri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Benvenuti
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sitzen und draußen die samtweiche Nacht vorbeirauscht, gelangt Karl zu der erschreckenden Erkenntnis, dass dieser alte Mann mit dem billigen Anzug und den Bartstoppeln, der sich eben an seine Schulter lehnt und eindöst, für ihn mehr wie ein Vater ist als dies sein leiblicher Vater je vermocht hat zu sein.
    Die Kassette war zu Ende und das klickende Geräusch riss Karl aus seinen Gedanken. Seufzend stemmte er sich vom Sofa hoch und warf einen letzten Blick auf die Blumen, bevor er die Kammer verließ. Er ging in die Küche, stellte Kaffee auf und warf einen Blick auf die blaue Plastikuhr, die schief an der Wand hing; es war kurz nach neun. Er hatte Hunger, war aber zu faul zum Einkaufen; er beschloss, unterwegs eine Kleinigkeit zu besorgen. Während er den durchlaufenden Kaffee betrachtete, fiel ihm ein, dass sich im Kühlschrank noch ein Klumpen gefrorenes Chili befinden müsste, das er letzte Woche gekocht hatte. Er riss die Tür des Kühlfaches auf, fand einen eisverkrusteten Brocken und legte ihn neben die Spüle. Er betrachtete ihn ein paar Sekunden, dann holte er den Reiseföhn aus dem Bad und taute damit das Chili an, das er dann in einen Topf gab und leicht vor sich hin köcheln ließ. Er schenkte sich eine TasseKaffee ein und trank ihn auf dem Weg nach unten, zum Postkasten. Der
Standard
, zwei Werbezettel von Möbelhäusern und eine Karte seiner Mutter, die in Uganda gerade an einem Bewässerungsprojekt mitarbeitete. Der Text war nichtssagend, das Foto nett.
    Er warf die Zeitung auf den Tisch, die Karte und die Werbezettel in den Karton fürs Altpapier, der neben der Tür stand. Nach kurzem Zögern fischte er die Karte wieder heraus und ließ sie in einer der Küchenschubladen verschwinden. In gewisser Weise beneidete er seine Eltern. Sicher, sie fuhren in der Weltgeschichte herum und waren fast nie hier, aber sie hatten ihren Platz im Leben gefunden. Karl suchte noch.
    Er goss sich eine zweite Tasse Kaffee ein, rührte ab und zu das Chili um und blätterte im Stehen die Zeitung durch. In Graz hatten ein paar Polizisten und besorgte Bürger, unterstützt von rechtsgerichteten Politikern, eine Bürgerwehr gegründet, mit dem Ziel, Drogendealer und Radfahrer, die sich nicht an die Verkehrsvorschriften hielten, dingfest zu machen. Sie waren mit Video- und Fotokameras ausgerüstet und hatten bis jetzt keinen einzigen Drogenhändler aus dem Verkehr ziehen können. Den Dealern kam die Aktion wahrscheinlich recht, schließlich war ein dümmlicher Kerl mit einer Videokamera einfacher auszumachen als ein Zivilfahnder, und die amokfahrenden Radler hatten vielleicht auch ein Einsehen und stiegen alsbald wieder aufs Auto um, denn einem Gerücht zufolge gab es in Graz noch einige trotzige Bäume.
    Er nippte an seinem Kaffee, blätterte um, überflog die Schlagzeile eines Artikels, und verschluckte sich plötzlich. Während er sich Kaffee vom Kinn wischte, las er den Artikel, der mit
Dicke Luft
überschrieben war. Ein nicht näher genannter Informant hatte gestern Abend in der Redaktion angerufen und einem Journalisten mitgeteilt, dass bei einem Laborunfall – eine Zentrifuge war zerstört worden – der Firma Amnat, die unter anderem die
Natur-pur!
-Linie herausgab, möglicherweise giftige Stoffe freigesetzt wurden. Der Chef der Wiener Niederlassung, Mag. Patrick Berger, war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen gewesen, die zuständigen Behördenbestätigten lediglich Anrainerbeschwerden wegen Geruchsbelästigung. Von freigesetzten Giftstoffen wusste niemand etwas.
    Karl las den Artikel ein zweites und ein drittes Mal und während die Zeilen vor seinen Augen zu verschwimmen begannen, brannte sich eine Formulierung in seine Netzhaut:
möglicherweise giftige Stoffe
. Berger war ihm eine Erklärung schuldig. Und zwar sofort.
    Als er nach unten zu seinem Fahrrad lief, die Zeitung in der schweißnassen Hand, fing sein Hals wieder an zu jucken.

ACHT
    â€žPasst doch auf, verdammt noch mal!“, rief Patrick Berger. „Das ist ein hochempfindliches Messgerät und kein Kleiderkasten.“
    Die beiden Arbeiter warfen einander einen genervten Blick zu und stellten den Gaschromatographen neben den Ausguss. „Anschließen auch?“, fragte einer der beiden und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
    Berger winkte ab. „Nein“, sagte er, „das mach ich selbst.“ Er ging ein

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