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Kolibri

Kolibri

Titel: Kolibri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Benvenuti
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Baumstumpf nieder und starrt auf das sich kräuselnde Wasser.
    â€žTienes fuego, chico?“
    Karl dreht sich um, zu niedergeschlagen um erschrocken zu sein, und mustert den Mann, der lässig am Stamm einer Palme lehnt, eine selbstgedrehte Zigarette im Mund. Er hat die Schauergeschichten gehört von Banditen, Entführern und illegalen Goldsuchern, die die Flüsse mit ihrem Quecksilber, das sie zum Binden des Edelmetalls ins Wasser schütten, vergiften.
    Er schüttelt den Kopf. „Nein“, sagt er in seinem schlechten Spanisch, „ich habe kein Feuer. Ich rauche nicht mehr.“
    Der Mann zuckt mit den Schultern und lächelt um die Zigarette herum. Karl beugt sich ein wenig vor und mustert den Unbekannten etwas genauer. Er scheint um die sechzig zu sein, auch wenn das schwer zu sagen ist. Seine Hände und sein Gesicht wirken alt, sein Körper hat die Drahtigkeit eines Dreißigjährigen. Er trägt eine unförmige blaue Stoffhose, die von einer Schnur zusammengehalten wird, darüber ein hellgraues Polohemd mit offenen Knöpfen. Auf dem Kopf thront eine ehemals weiße Kappe, unter der ein Schopf erstaunlich dunklen Haares hervorquillt. Der Mann ist barfuß.
    â€žRocín“, sagt er und deutet mit dem Daumen auf seine Brust. Wieder teilt ein Lächeln sein Gesicht und Karl kann die großen, im Dunklen schimmernden Zähne aufblitzen sehen.
    Karl stellt sich mit der spanischen Version seines Namens,
Carlos
, vor, und Rocín fragt, ob er zur Forschungsstation gehöre, was Karlbejaht. Rocín setzt sich neben Karl auf den Boden und lehnt sich mit dem Rücken an den Baumstumpf. Seltsamerweise verspürt Karl keine Angst. Der Mann, Rocín, wirkt ruhig, beinahe heiter, und strahlt Gelassenheit aus. So sitzen sie da, eine Stunde, oder auch zwei, ohne ein weiteres Wort zu wechseln. Irgendwann steht Rocín schließlich auf und verabschiedet sich mit einem knappen Nicken.
    Am nächsten Abend, nach einem weiteren langweiligen Tag, den er mit dem Trocknen und Katalogisieren von Blättern verbracht hat, geht Karl wieder zur Lichtung und trifft auf einen rauchenden Rocín, der die Blüte einer
Cattleya skinneri
in Händen hält, die Nationalblüte Costa Ricas. Karl weiß, dass diese Orchideenart sehr selten ist und in der freien Natur kaum mehr vorkommt. Sie wird auf riesigen Farmen gezüchtet, aufgepfropft auf Bäumen, und um hundert US-Dollar und mehr verkauft.
    â€žHübsche Blume“, sagt Karl und setzt sich neben Rocín.
    Rocín nickt. „Die hab ich selbst gezüchtet,
chico
.“
    Sie unterhalten sich den ganzen Abend und die halbe Nacht über Orchideen. Rocín ist beeindruckt von Karls Fachwissen und Karl winkt ab und meint, das habe er auf der Uni gelernt, das sei nur Theorie. Rocín dreht sich ab und zu eine Zigarette und im Schein des Streichholzes sieht Karl die verschwommenen blauen Tätowierungen auf Rocíns Händen. Rocín, der den Blick bemerkt, lächelt gequält und sagt, er stamme ursprünglich aus Kuba, und Karl, dem die Richtung, die das Gespräch nehmen könnte, nicht gefällt, nickt nur und sagt nichts. Zum Abschied meint Rocín noch, Karl solle am nächsten Tag ein wenig früher kommen, wenn es noch hell ist. Karl verspricht es.
    Am nächsten Tag ist Karl schon gegen fünf am Nachmittag auf der Lichtung und Rocín, die Kappe auf den Hinterkopf geschoben, grinst ihn mit zusammengekniffenen Augen an, deutet mit dem Daumen in den Regenwald und sagt:
„Vamos.“
    Die nächste halbe Stunde verbringt Karl damit, hinter einem erstaunlich schnell gehenden Rocín herzurennen. Nach wenigen Meternschon hat er die Orientierung verloren. Die hoch in den Himmel ragenden Bäume halten das immer spärlicher werdende Sonnenlicht ab, Zweige zerkratzen seine Haut, Moskitos stechen ihn, salziger Schweiß rinnt ihm in die Augen, knorrige Wurzeln scheinen nach seinen Füßen zu greifen. Schließlich, als Karl sich schon als Gefangenen in einer schäbigen Wellblechhütte sieht, mit einer Tageszeitung vor der Brust für das Foto posierend, hebt Rocín die Hand und dreht sich mit einem Lächeln um:
„Estamos.“
    Keuchend tritt Karl ein paar Schritte vor, stellt sich neben den Kubaner und folgt mit seinem Blick dessen ausgestrecktem Arm.
„Puta madre“
, flüstert Karl, der sich die wichtigsten spanischen Ausdrücke angeeignet hat. Vor ihm

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