Kollaps
ersten Jahres der christlichen Zeitrechnung beginnt. Welche Bedeutung dieser »Tag Null« unseres Kalenders hat, wissen wir: Er bezeichnet angeblich den Anfang des Jahres, in dem Christus geboren wurde. Vermutlich legten auch die Maya ihrem »Tag Null« eine besondere Bedeutung bei, aber worin sie bestand, wissen wir nicht. Die ersten bis heute erhaltenen Daten des Langen Kalenders sind das Jahr 197 n. Chr. auf einem Bauwerk im Mayagebiet und das Jahr 36 v. Chr. außerhalb davon; aus beiden kann man auf den 11. August 3114 v. Chr. als Tag Null des Langen Kalenders zurückrechnen, obwohl es zu jener Zeit und noch 2500 Jahre danach nirgendwo in der Neuen Welt eine Schrift gab.
Unser Kalender ist in die Einheiten der Tage, Wochen, Monate, Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte und Jahrtausende unterteilt: Mit dem Datum 19. Februar 2003 beispielsweise, an dem ich den ersten Entwurf dieses Absatzes schrieb, bezeichnen wir den neunzehnten Tag des zweiten Monats im vierten Jahr des ersten Jahrzehnts im ersten Jahrhundert des dritten Jahrtausends nach der Geburt Christi. Auf ganz ähnliche Weise benennt auch der Lange Kalender der Maya Daten in den Einheiten der Tage (kn), 20 Tage (uinal), 360 Tage (tun), 7200 Tage oder ungefähr 20 Jahre (katunn) und 144 000 Tage oder ungefähr 400 Jahre (baktun). Die gesamte Geschichte der Maya fällt in die baktuns 8, 9 und 10.
Die so genannte klassische Periode der Maya-Kultur beginnt im baktun 8, ungefähr 250 n. Chr.; zu dieser Zeit findet man erstmals Hinweise auf der Könige und Dynastien. Die Experten für Maya-Schrift kennen unter den Glyphen (Schriftzeichen) auf den Denkmälern einige Dutzend, die jeweils in bestimmten geographischen Gebieten gehäuft auftreten und nach heutiger Kenntnis ungefähr die Bedeutung von Dynastien oder Königreichen haben. Neben den Königen, die ihre eigenen Namen-Glyphen und Paläste besaßen, hatten auch viele Adlige besondere Inschriften und große Bauwerke. In der Gesellschaft der Maya war der König gleichzeitig auch Hoher Priester. Ihm fiel also die Aufgabe zu, astronomische und kalendarische Rituale zu vollziehen, um auf diese Weise für Regen und Wohlstand zu sorgen; aufgrund seiner angeblichen Verwandtschaft mit den Göttern nahm er für sich die übernatürliche Fähigkeit in Anspruch, beides herbeizuführen. Es fand also ein stillschweigender Tauschhandel statt: Die Bauern ermöglichten dem König und seinem Hofstaat eine luxuriöse Lebensweise, lieferten ihm Mais und Wildbret und bauten seine Paläste, weil er ihnen im Gegenzug große Versprechungen machte. Wie wir noch genauer erfahren werden, bekamen die Könige Schwierigkeiten mit ihren Bauern, wenn eine Dürre einsetzte, denn das war gleichbedeutend mit dem Bruch eines königlichen Versprechens.
Ungefähr seit 250 n. Chr. wuchsen die Bevölkerung der Maya (die man aus der Zahl archäologisch belegter Stellen mit Häusern ableiten kann), die Zahl der Denkmäler und Bauwerke sowie die Zahl der im Langen Kalender angegebenen Daten auf Denkmälern und Keramikgegenständen fast exponentiell an, bis sie im 8. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichten. Gegen Ende dieser klassischen Periode entstanden die größten Bauwerke. Im 9. Jahrhundert ging die Zahl aller drei Indikatoren einer komplexen Gesellschaft zurück, und das letzte Kalenderdatum auf einem Bauwerk wurde im baktun 10 angebracht, das heißt im Jahr 909 n. Chr. Dieser Niedergang der Bevölkerung, der Architektur und des Langen Kalenders der Maya ist gleichbedeutend mit dem klassischen Zusammenbruch ihrer Gesellschaft.
Als Beispiel für den Niedergang wollen wir eine kleine, aber dicht bebaute Stadt genauer betrachten. Ihre Ruinen befinden sich im Westen des heutigen Honduras an einer Stelle, die unter dem Namen Copan bekannt ist und in jüngster Zeit von dem Archäologen David Webster in zwei Büchern beschrieben wurde. Unter landwirtschaftlichen Gesichtspunkten liegt das beste Land in der Umgebung von Copan in fünf kleinen Ebenen mit fruchtbarem Boden, die sich entlang eines Flusses erstrecken und insgesamt die winzige Fläche von nur rund 26 Quadratkilometern haben; die größte dieser fünf Flächen, Copan Pocket genannt, hat eine Fläche von nur 13 Quadratkilometern. Zum größten Teil besteht die Landschaft rund um Copan aus steilen Bergen; fast die Hälfte dieser Gebirgsflächen hat eine Steigung von über 16 Prozent. Der Boden ist im Gebirge weniger fruchtbar, säurehaltiger und phosphatärmer als im Tal. Heute liefern Felder am
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