Kollaps
große Zahl der Ritzen in den Kanus zu kalfatern und abzudichten, sind diese dementsprechend undicht, aus welchem Grunde sie gezwungen sind, die Hälfte der Zeit mit Schöpfen zu verbringen.« Wie konnte eine Gruppe von Siedlern mit Nutzpflanzen, Hühnern und Trinkwasser in einem solchen Wasserfahrzeug eine Seereise von zweieinhalb Wochen überleben?
Wie für alle späteren Besucher einschließlich meiner selbst, so war es auch für Roggeveen ein Rätsel, wie die Inselbewohner ihre Statuen aufgerichtet hatten. Um noch einmal aus seinem Tagebuch zu zitieren: »Die steinernen Bildsäulen sorgten zuerst dafür, dass wir starr vor Erstaunen waren, denn wir konnten nicht verstehen, wie es möglich war, dass diese Menschen, die weder über dicke Holzbalken zur Herstellung irgendwelcher Maschinen noch über kräftige Seile verfügten, dennoch solche Bildsäulen aufrichten konnten, welche volle neun Meter hoch und in ihren Abmessungen sehr dick waren.« Ganz gleich, mit welchen Methoden die Inselbewohner im Einzelnen ihre Statuen aufrichteten, in jedem Fall brauchten sie kräftige Holzbalken und Seile, die aus großen Bäumen hergestellt wurden - das war Roggeveen ganz klar. Aber als er die Osterinsel kennen lernte, war sie Ödland, und kein einziger Baum oder Busch war höher als drei Meter: »Ursprünglich, aus größerer Entfernung, hatten wir besagte Osterinsel für sandig gehalten, und zwar aus dem Grund, dass wir das verwelkte Gras, Heu und andere versengte und verbrannte Vegetation als Sand angesehen hatten, weil ihr verwüstetes Aussehen uns keinen anderen Eindruck vermitteln konnte als den einer einzigartigen Armut und Öde.« Was war aus den vielen Bäumen geworden, die früher dort gestanden haben müssen?
Um die Bearbeitung, den Transport und die Errichtung der Statuen zu organisieren, bedurfte es einer komplexen, vielköpfigen Gesellschaft, die von ihrer Umwelt leben konnte. Allein die Zahl und Größe der Statuen lassen auf eine Bevölkerung schließen, die viel größer war als die wenigen tausend Menschen, denen die europäischen Besucher im 18. und frühen 19. Jahrhundert begegneten: Was war aus der früheren großen Bevölkerung geworden? Herstellung, Transport und Aufbau der Statuen erforderten zahlreiche spezialisierte Arbeitskräfte - wovon lebten sie, wenn es auf der Osterinsel, wie Roggeveen sie kennen lernte, keine größeren einheimischen Landtiere als Insekten gab und auch keine Haustiere mit Ausnahme von Hühnern? Auch die Verteilung der Ressourcen auf der Osterinsel lässt auf eine kompliziert gebaute Gesellschaft schließen: Der Steinbruch befindet sich fast am Ostende der Insel, das beste Gestein für die Herstellung von Werkzeugen findet man im Südwesten, der beste Strand für Fischerboote liegt im Nordwesten und das beste Ackerland im Süden. Die Gewinnung und Verteilung all dieser Produkte erforderte ein System, das die gesamte Wirtschaft der Insel einschloss: Wie konnte diese in einer so armen, öden Landschaft entstehen, und was wurde aus ihr?
Alle diese Rätsel gaben fast drei Jahrhunderte lang den Anlass zu einer Fülle von Spekulationen. Vieler Europäer mochten einfach nicht glauben, dass die Polynesier, die ja »nur Wilde« waren, die Statuen oder die großartig konstruierten steinernen Plattformen schaffen konnten. Auch der norwegische Entdecker Thor Heyerdahl wollte den Polynesiern, die sich aus Asien über den westlichen Pazifik verbreiteten, keine solchen Fähigkeiten zugestehen: Er vertrat die Ansicht, die Osterinsel sei über den östlichen Pazifik von den hoch entwickelten Gesellschaften der südamerikanischen Indianer besiedelt worden, die ihrerseits ihre Zivilisation über den Atlantik von den höher entwickelten Gesellschaften der Alten Welt übernommen haben müssten. Mit seiner berühmten Kon-Tiki-Expedition und seinen anderen Reisen auf Flößen wollte Heyerdahl beweisen, dass solche Kontakte über die Ozeane hinweg in prähistorischer Zeit möglich waren, und er wollte seine Theorie beweisen, nach der zwischen den ägyptischen Pyramiden, den riesigen steinernen Bauwerken des südamerikanischen Inkareiches und den Statuen der Osterinsel ein Zusammenhang bestand. Mein eigenes Interesse an der Osterinsel erwachte vor über 40 Jahren, nachdem ich Heyerdahls Buch Kon-Tiki mit seiner romantischen Interpretation der Geschichte der Osterinsel gelesen hatte; damals glaubte ich, nichts könne spannender sein als diese Deutung. Aber es ging noch weiter: Nach den Behauptungen des
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