Kolonien der Liebe
junge Mädchen störte mich nicht, ich bin nicht eifersüchtig, will nichts von dir, außer daß es dich gibt, so gibt, wie du in diesem Sommer warst. Jetzt, Alban, interessierst du mich schon nicht mehr. Du warst die heftigste, die leidenschaftlichste und die kürzeste Liebe meines Lebens.
Vielleicht auch die letzte, darüber denke ich nicht nach.
Bei klirrender Kälte ist der Wiener Zentralfriedhof ein großer stiller Park, durch den die Hasen huschen. Einmal im Jahr wird der Friedhof für die Angehörigen geschlossen und für die oberen Tausend zur Jagd freigegeben - dann ist es aus mit der Totenruhe, und Hasen, Fasane, wilde Katzen und Rehe werden geschossen.
Ich war auf dem jüdischen Friedhof und sah an Schnitzlers Grab ein Reh stehen. Es schaute mich ernst und furchtlos an, ich hätte es gern gefüttert, aber ich hatte nur einen Arm voller verschneiter Blumen, von allen frischen Gräbern zusammengestohlen, die ich dem bringen wollte, dem sie zustehen - Schubert. Ich stand lange vor seinem Grab und sang mir und ihm alles vor, was ich noch auswendig wußte, und da hätte ich dich gern neben mir gehabt, deine Hand in meiner Manteltasche, deinen Mandelduft, deine Stimme, die mit mir singt. Ich bin romantisch, ja, aber nicht so romantisch, Alban, daß ich deine Liebesschwüre geglaubt oder auch nur gewollt hätte. Ich war entsetzt und erschrocken über deinen Ausbruch im Konzert, als du plötzlich während der Musik deine Hand auf mein Knie legtest und sagtest: «Jetzt kannst du nicht weg und jetzt hörst du mir zu. Ich liebe dich. Es ist mir egal, wer wie alt ist, ich liebe dich.»
«Unser Herrgott ist der Stärkste!» steht auf einem schwarzen, sonst völlig leeren und unverzierten Grabstein, es sieht aus, als wäre hier ein Punker begraben. Marie Anzengruber, des Dichters Mutter, liegt nicht weit davon und läßt das Geratter der Linie 71 auf der Simmeringer Hauptstraße alle zehn Minuten über sich ergehen. Der Dichterfürst selbst prangt am Hauptweg, futtersuchende Raben auf dem Marmorkopfseiner Statue.
Zwei Frauen standen vor einem Grab mit der Inschrift «Hier ruhet in Frieden Herr Anton Schreiber K. K. Verzehrungssteuer-linienoberamtsverwalter i. P. 1839-1901». «Jaja», sagte die eine,
«wos is der Mensch? Goa nix.» Und die andere fügte hinzu:
«Mancher meint wer weiß wasser is und hat am Ende doch auch nur a Grabstöll.»
Der Besuch auf dem Friedhof, wo alle Liebe ein Ende findet, mögen die Dichter auch das Gegenteil behaupten, hatte mich wieder aufgemuntert, und so habe ich mir abends im Burgtheater eine unsägliche Posse angesehen, in der Paula Wessely als «die Hoffnung» aus dem Bühnenboden gefahren kam und ein paar pathetische Sätze sagte, nach jedem schnell wieder ihr Gebiß festzurrend. Durch mein geliehenes Opernglas made in USSR sah ich ihr abgelebtes Gesicht, und am Ende des Stückes sangen alle
«Der kleine Liebesgott treibt mit uns allen Scherz, kaum trifft er uns ins Herz, da fliegt er fort, der kleine Schelm».
Ich fange an, dich zu vergessen, Alban. Ich werde wieder fröhlich. Ich habe mich in diesem Sommer noch einmal so verliebt, wie man es eigentlich nur kann, wenn man ganz jung ist, aber ich bin nicht darauf hereingefallen. Ich habe dir nicht geglaubt. Ich bin rechtzeitig gegangen. Gerade noch.
Im Fernsehen sah ich nach Jahren wieder Fellinis «Amarcord», auch ein Film, den man erst versteht, wenn man älter wird und die Dinge eine andere Wertigkeit bekommen haben. Aurelio und Miranda, die Eltern, sitzen beim Frühstück, und Aurelio sagt:
«Jedesmal wenn ich ein Ei sehe, könnte ich es stundenlang betrachten, und ich frage mich, wie die Natur etwas so Vollkommenes schaffen konnte.» Und Miranda sagt sanft: «Aber die Natur hat ja auch Gott gemacht, Aurelio, und nicht so ein Dummkopf wie du.»
Ich möchte mit einem Aurelio alt werden, Alban, nicht mit einem Götterliebling wie dir. Ich möchte alt werden. Ich möchte nicht mehr jung sein mit dir, das hat dieser Sommer mich gelehrt. Und wie still Aurelio dasitzt und mit seiner Hand über das Tischtuch streicht, als Miranda tot ist... das ist Liebe, Alban, nicht dein heißer Atem. Nicht deine Tränen, deine Briefe, dein Kampf um eine Frau, zum erstenmal, du, dem doch alle Frauen zufliegen. Und diese hier, von der du spürst, daß sie dich liebt, die will nicht? Gelacht.
Böse hast du ausgesehen, böse, brutal und dumm, und du konntest nicht begreifen, daß es Liebe gibt, die nicht erwidert werden darf.
Im
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