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Kolonien der Liebe

Kolonien der Liebe

Titel: Kolonien der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elke Heidenreich
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und ich wollte jetzt nur noch einen einzigen Besuch in Wien machen, ehe ich zurückfuhr in meine Stadt, die auch deine Stadt ist.
    Ich bin in die Kettenbrückengasse gefahren
    - eine
    Handwerkerstraße mit kleinen Läden, niedrigen dunklen Häusern, feuchten Wänden. Am Haus Nr. 6 hängt ein handbeschriebenes Stück Pappe: Schubert, 2. Stock. Als wohne er noch immer dort.
    Im zweiten Stock steht an einer Tür: Sterbezimmer. Schubert. Als ich klingele, es ist schon gegen i6Uhr, dunkel, totenstill, tut sich lange nichts. Dann öffnet mir eine müde Frau mit nur einem Arm.
    Sie ißt ein Butterbrot und packt es hastig weg, als ich komme. Sie macht Licht, schließt die Tür und kassiert ein kleines Eintrittsgeld.
    «Schauns nur», sagt sie, «Sie sind die erste seit vierzehn Tag!»
    Drei winzig kleine Räume, ein paar Stiche an den Wänden, Vitrinen mit Noten. Eine Tafel erklärt, daß Franz Schubert hier am 1.September 1828 einzog, zu seinem Bruder Ferdinand, als
    «Trockenwohner» - die Wohnung hatte kein Wasser, das reduzierte die Miete. Hier schrieb er die «Winterreise», hier starb er im November 1828, nur 31 Jahre alt, Alban, nur wenige Jahre älter als du. Verzeih, wenn ich das immer wieder denken muß, ich denke nicht, daß es mangelnde Radikalität ist, daß du noch lebst.
    Lebe nur. Werde alt und banal wie wir alle, deinen Göttersommer hast du gehabt. Dieser hier nicht. Nichts hat er gehabt, nur seine Musik. «Lieber Franz, ich bin krank», schreibt er an Franz von Schober, seinen einzigen Freund, am 12. November. Der Brief hängt hier. Sieben Tage später war Schubert tot, und auf seinen Grabstein haben ihm die verlogenen Wiener geschrieben: «Die Tonkunst begrub hier einen reichen Besitz, aber noch viel schönere Hoffnungen. »Jaja, Hoffnungen. Der Währinger Friedhof ist aufgelassen, es gibt kein Schubertgrab mehr, auf dem Zentralfriedhof, wo meine gestohlenen Blumen welken, ist nur eine Gedächtnisstätte. Ich dachte an Raffaels Grab in Rom, auf dem in lateinischer Sprache steht: «Hier ruht jener Raffael, auf den die Natur, als er noch lebte, eifersüchtig war. Nun, da er tot ist, weint sie um ihn.»
    Die Götterjünglinge, die schön sind durch ihr Talent, durch eine Flamme, die in ihnen brennt. Du bist nur schön, Alban. Wer weint um dich?
    Die Hüterin des Sterbezimmers seufzt und schaut aus dem Fenster in den Regen. «Schubert», sagt sie, «ausgerechnet Schubert, den ich gar nicht mag, mein Gott heißt Beethoven. Und wo sitz ich? Beim Schubert, tagaus, tagein.»
    Ich gehe zu Fuß in meine seltsame Wohnung zurück, durch Schuberts Gasse mit dem Geschäft für Pferdemark, dem Tierpräparator mit seinen schaurigen Exponaten, dem Fleischsel-cher, dem Spezialhaus für Karniesen, was immer das sein mag.
    Hier gibt es den Fortissimo-Musikverlag, den Strick-Shop und den Südfrucht-Discount. Weiter unten, an der Wien, ein Haus in leuchtendem Rosa mit der Graffiti-Inschrift: «Erstes Wiener Schwulen- und Lesbenhaus». Ach, Schubert. Schreib im Vorübergehen ans Tor dir gute Nacht/ damit du mögest sehen: An dich hab ich gedacht. An dich hab ich gedacht.
    Felix Nadar hat 1861 Pariser Katakomben photographiert - die ersten Photos bei künstlichem Licht, 25 Jahre vor der eigentlichen Erfindung der Photographie. Man konnte diese Bilder sehen, als ich in Wien war. Sie zeigen zum Teil Abwasserkanäle unter Paris, aber in der Mehrzahl schreckliche Gebilde aus Knochen und Schädeln - die ausgelagerten Gebeine früherer Friedhöfe, die Toten aus Gefängnissen, Kriegen und Revolutionen, zu Mauern getürmt oder zu grausigen Ornamenten geformt. Nadar hat Puppen in die Bilder gestellt und «arbeiten» lassen, einmal, um Menschengröße im Verhältnis zu diesen riesigen Knochenbergen zu zeigen, und zum ändern Puppen deshalb, weil kein Mensch diesen Anblick ertragen hätte, und weil auch niemand zwanzig Minuten notwendige Belichtungszeit still hätte aushaken können -
    das können nur die Toten. «Mein Leben ist zerronnen wie das Wasser und alle meine Knochen sind zerstreut», stand unter einem der sepiabraunen Bilder.
    Ich fahre getröstet zurück nach Hause. Alban, du erreichst mich nicht mehr, du schönes Kind unter all diesen Toten. Du bist unglücklich, du sagst, daß du mich liebst. Ich habe mit vierundzwanzig Jahren auch solche Dinge gesagt. Man vergißt sie.
    Die Liebe dauert immer nur einen Augenblick.

Das Herz kaum größer als die Leichenfaust
    Lisa
    Lisa war nach Norditalien in das Haus von Freunden gefahren,

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