Kolumbus' Erbe: Wie Menschen, Tiere, Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen (German Edition)
galten immer noch als illegale Siedlungen. Doch die Regierung war zu schwach, um etwas gegen sie zu unternehmen.
In den 1950 er und 1960 er Jahren erlebte Salvador einen enormen Aufschwung. Die Stadt streckte ihre Pseudopodien über die Gebirgskämme aus, umfloss Calabar, Liberdade und eine weiteres halbes Dutzend
quilombos
. Doch diese Flüchtlingsniederlassungen wurden nie wirklich Teile der Stadt – niemand hatte legale Besitzansprüche auf das Land. Nur wenige Straßen führen nach Calabar hinein. Abwasserleitungen wurden um seine Grenzen herumgeleitet. Die Bewohner mussten sich mit behelfsmäßigen Anschlussstellen elektrischen Strom stehlen. 1985 , als Christian geboren wurde, war der einstige Unterschlupf für entlaufene Sklaven von hohen Apartmenthäusern umgeben.
Hinter einer Mauer von hoch aufragenden Apartmenthäusern in einem der wohlhabendsten Viertel von Salvador in Brasilien liegt versteckt die Stadt Calabar, die vor vierhundert Jahren von entlaufenen Sklaven gegründet wurde und bis heute nur schwach mit dem größeren Stadtkomplex verbunden ist.
Als ich Christian kennenlernte, war er so freundlich, Susanna Hecht – die Geographin von der UCLA , die mir großzügig ihre sprachlichen und historischen Kenntnisse zur Verfügung stellte – und mich in dem Haus seiner Kindheit herumzuführen. Der Zugang war eine enge, nicht gekennzeichnete Treppe. In Knäueln bedeckten illegale elektrische Anschlüsse die Wände. Durch zerbröckelnde Betonwege verbunden, erklommen die Häuser schief und krumm den Hang. Es gab fast keine Autos. Am Fuß des Hügels waren die Straßen voller promenierender Menschen, und wie in anderen Vierteln von Salvador war die Luft voller Musik. Teenager in weißer Kleidung übten
capoeira
, den afrobrasilianischen Tanz, der zugleich eine Kampfsportart ist. Über der Straße hingen Plakate, die Nachbarschaftsprogramme anpriesen. Hier und dort glommen neue Straßenlaternen. Es war ein lebendiges Viertel, zumindest erschien es mir so, eine Stadt in einer Stadt.
Calabar und Liberdade sind keine Einzelerscheinungen. Tausende solcher Flüchtlingsniederlassungen übersäten Brasilien, weite Gebiete des restlichen Südamerikas, den größten Teil der Karibik und Zentralamerikas und sogar manche Regionen Nordamerikas – in den Vereinigten Staaten gab es mehr als fünfzig. [636] Einige nahmen riesige Flächen ein und führten jahrzehntelange Kämpfe gegen Kolonialregierungen. Andere verbargen sich in den feuchten Wäldern des unteren Amazonas, Zentralmexikos und der US -amerikanischen Südstaaten. Alle waren bemüht, sich Freiräume zu verschaffen – die «Freiheit zu erfinden», wie der brasilianische Historiker João José Reis schrieb. [637] Es gab viele Bezeichnungen für sie:
quilombos
natürlich, aber auch
mocambos, palenques
und
cumbes
. Im Englischen heißen sie gewöhnlich
maroon
-Siedlungen – der Ausdruck kommt bezeichnenderweise von
simaran
, dem Taino-Wort für den Flug eines Pfeils. [638] Häufig wird die amerikanische Geschichte dargestellt als Besiedlung einer fast leeren Wildnis durch Europäer. Doch jahrhundertelang waren die meisten Neuankömmlinge Afrikaner, und das Land war keineswegs leer, sondern von Millionen indigenen Menschen bewohnt. Vielfach war also die große Begegnung zwischen den beiden getrennten Hälften der Welt weniger ein Treffen zwischen Europa und Amerika als vielmehr der Kontakt zwischen Afrikanern und Amerikanern – ein Verhältnis, das in der Unfreiheit der Sklaverei und in der Auflehnung gegen sie entstand. Die komplexe Wechselbeziehung zwischen Rot und Schwarz, die den Blicken der Europäer weitgehend entzogen blieb, ist eine verborgene Geschichte, die die Forschung erst jetzt genauer zu untersuchen beginnt.
Selbst wenn Schulbücher die Bevölkerungsgruppen zur Kenntnis nehmen, die die Mehrheit der Hemisphäre bildeten, werden diese allzu oft als hilflose Opfer europäischer Expansion dargestellt: Die Indianer schwanden unter den Angriffen der Kolonisten dahin, die Afrikaner wurden in Ketten und mit Peitschenhieben zum Frondienst auf den Plantagen gezwungen. In beiden Rollen haben sie wenig Willensfreiheit – keine Handlungsmächtigkeit, wie die Sozialwissenschaftler sagen. Natürlich hat die Sklaverei Millionen Afrikanern und Indianern ein Leben voll Not und Elend aufgezwungen. Häufig war dieses Leben kurz: ein Drittel bis die Hälfte der brasilianischen Sklaven starb binnen vier, fünf Jahren. [639] Mehr noch starben auf dem Weg
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