Kolumbus' Erbe: Wie Menschen, Tiere, Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen (German Edition)
Harvard-Historiker John K. Thornton «über ein riesiges Gebiet des brasilianischen Küstengebirges und stellte eine rivalisierende Macht dar, die stärker als jede andere Gruppierung außerhalb Europas war». Er hatte damals fast so viele Bewohner wie der ganze englische Teil Nordamerikas. Als hätte man ein afrikanisches Expeditionsheer auf den amerikanischen Kontinent verlegt, wo es ein Gebiet von mehr als 25 000 Quadratkilometern kontrollierte. [647]
Palmares’ Hauptstadt war Macaco, Aqualtunes letzte Ruhestätte. Entlang einer breiten Straße von achthundert Metern Länge lagen eine Kirche, ein Rathaus, vier kleine Eisengießereien und mehrere hundert Wohnhäuser, das Ganze umgeben von bewässerten Feldern. Der Staatschef war Aqualtunes Sohn Ganga Zumba, der in einem «Palast» residierte, wie ein europäischer Besucher schrieb, umgeben von einem Gefolge schmeichlerischer Höflinge. Andere Mitglieder der königlichen Familie herrschten über andere Dörfer. Möglicherweise war Ganga Zumba ein Titel und kein Name;
nganga a nzumbi
bezeichnete in vielen angolanischen Gesellschaften einen Priesterrang. Meist, so berichtete der Besucher, begegnete man ihm mit der Ehrerbietung, die eines Königs würdig gewesen wäre. Seine Untertanen mussten sich ihm auf Knien nähern und in die Hände klatschen, eine afrikanische Gebärde der Unterwerfung. [648]
Die Gewissheit, dass seine Leute stets auf einen Angriff gefasst sein mussten, veranlasste Ganga Zumba, die Ortschaften eher wie Militärlager als wie Dörfer anzulegen – strenge Disziplin, ständige Wachdienste, häufige Waffenübungen. Jede größere Siedlung war von doppelwandigen Holzpalisaden umschlossen, die oben mit Laufgängen und an den Ecken mit Beobachtungstürmen versehen waren. Die Palisaden wiederum waren von losen Holzhaufen umgeben, Todesfallen, Gruben, die mit vergifteten Pfählen gespickt waren, und ganzen Feldern voller Krähenfüßen, Defensivwaffen, bei denen Eisensporne so zusammengeschweißt werden, dass immer eine Spitze nach oben zeigt, die den verletzt, der auf sie tritt. Jeder, der vor der Sklaverei geflohen war und dort lebte, hatte für seine Freiheit Leib und Leben in einer Weise riskiert, die sich heute kaum noch vorstellen lässt. Palmares war auf das Äußerste entschlossen, sein Schicksal selbst in der Hand zu behalten.
Einer der hartnäckigsten Mythen über den Sklavenhandel ist auch einer der schlimmsten: dass die Rolle der Afrikaner ganz auf die der hilflosen Opfer beschränkt gewesen sei. Abgesehen von den letzten Jahrzehnten des Handels – und wahrscheinlich selbst dann noch – sorgten die Afrikaner selbst für den Nachschub an afrikanischen Sklaven, indem sie den Europäern eine bestimmte Anzahl zu Preisen verkauften, die sie als gleichberechtigte Geschäftspartner ausgehandelt hatten. Natürlich versuchten die Europäer die Sklavenhändler gegeneinander auszuspielen, um die Preise zu drücken. Aber die Afrikaner verfuhren genauso mit den europäischen Käufern: Kapitän gegen Kapitän, Land gegen Land.
Wenn die Afrikaner von den Europäern nicht gezwungen wurden, andere Afrikaner zu verkaufen, warum taten sie es dann? In gewissem Sinne ist die Frage ein Beispiel für «Präsentismus» – die Projektion zeitgenössischer Überzeugungen auf die Vergangenheit. Nur wenige Europäer oder Afrikaner hielten die Sklaverei damals für eine erklärungsbedürftige Institution und schon gar nicht für ein beklagenswertes Übel. Sklaverei war ein Element des Alltags; weder in Europa noch in Afrika galt es als moralisch anstößig, andere Menschen ihrer Freiheit zu berauben, allerdings durfte man nicht die falschen Personen versklaven. Christen war es beispielsweise grundsätzlich verboten, andere Christen als Sklaven zu verkaufen oder zu halten, gleichwohl wurde diese Regel gelegentlich außer Kraft gesetzt. Afrikaner verkauften Landsleute eher in die Sklaverei als Europäer – nicht weil sie eine andere Einstellung zur Freiheit hatten, sondern weil sich ihr wirtschaftliches System von dem der Europäer unterschied.
Im Allgemeinen waren Sklaven, wie Thornton, der Harvard-Historiker meint, «die einzige Form von gewinnbringendem Privateigentum, die afrikanische Gesetze erlaubten». In West- und Mitteleuropa war die wichtigste Eigentumsform Landbesitz, daher bestand die Aristokratie überwiegend aus Großgrundbesitzern, die mehr oder weniger ohne gesetzliche Einschränkungen Land kaufen oder verkaufen konnten. In West- und
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