Kolumbus' Erbe: Wie Menschen, Tiere, Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen (German Edition)
jüngeren Studien ist
S. tuberosum
selbst in acht größere Unterarten aufgegliedert, die jeweils eigene Namen haben.
Die wilden Verwandten der Kartoffel sind nicht weniger verwirrend. 1990 verkündete der Genetiker J. G. Hawkes in seinem Hauptwerk
The Potato
die Existenz von 229 namentlich aufgeführten Arten von Wildkartoffeln. Damit war die Frage jedoch noch nicht geklärt. Nach der Analyse von fast 5000 Pflanzen auf dem ganzen amerikanischen Kontinent reduzierten niederländische Forscher Hawkes’ 229 Gruppen auf zehn unscharf definierte Kategorien – sogenannte Artengruppen –, die wie flache, sumpfige Inseln in einem Morast aus nicht klassifizierbaren Hybriden dümpeln, der sich von Zentralamerika entlang der Anden bis hinab zur Spitze Südamerikas erstreckt und nicht in die klassischen Arten biologischer Lehrbücher «gegliedert oder unterteilt werden kann». Die Beschreibung der Wildkartoffel als wegloser genetischer Sumpf dürfte die wissenschaftliche Gemeinschaft, wie die niederländischen Forscher einräumten, möglicherweise nur «schwer akzeptieren können». [422]
Andenvölker züchteten Hunderte von verschiedenen Kartoffelvarietäten, von denen die meisten nie außerhalb Südamerikas heimisch geworden sind.
All das war natürlich nicht ersichtlich für die ersten Spanier, die in die Anden vordrangen – die Bande unter Führung von Francisco Pizarro, der 1532 in Ecuador landete und die Inka angriff. Die Konquistadoren beobachteten, wie die Indianer die runden Objekte aßen, und taten es ihnen trotz ihres Argwohns gelegentlich nach. Rasch verbreitete sich die Kunde von dem neuen Nahrungsmittel. Binnen drei Jahrzehnten bauten spanische Bauern selbst noch auf den weit entfernten Kanaren Kartoffeln in solchen Mengen an, dass sie sie nach Frankreich und den Niederlanden – damals ein Teil des spanischen Weltreichs – exportieren konnten. Die erste wissenschaftliche Beschreibung der Kartoffel erschien 1596 aus der Feder des Schweizer Naturforschers Caspar Bauhin, der ihr den Namen
Solanum tuberosum esculentum
gab, woraus später die moderne Bezeichnung
Solanum tuberosum
wurde. [423]
Die Legende will, dass Francis Drake auf einer seiner Fahrten als Pirat oder Freibeuter die Kartoffel aus dem spanischen Kolonialreich gestohlen habe. Angeblich übergab er sie Walter Ralegh [27] , dem Gründer der glücklosen Kolonie Roanoke – Drake rettete die Überlebenden. Auf seinem irischen Gut soll Ralegh einen Gärtner aufgefordert haben, die Kartoffeln zu pflanzen. Es heißt, sein Koch habe die giftigen Beeren zum Dinner serviert, woraufhin Ralegh die Gewächse aus seinem Garten habe reißen lassen. Hungrige Iren hätten sie sich aus dem Abfall geholt – so kam es wohl zu dem Standbild in Offenburg. Die Geschichte ist wenig wahrscheinlich; selbst wenn Drake in der Karibik einige Kartoffeln gestohlen haben sollte, hätten sie die Monate auf See nicht überstanden. [424]
Da sie das erste Nahrungsmittel war, das sie aus Knollen statt aus Saatgut zogen, betrachteten die Europäer die Kartoffel mit Faszination und Argwohn gleichermaßen; die einen hielten sie für ein Aphrodisiakum, die anderen für die Verursacherin von Fieber, Lepra und Skrofulose. Ultrakonservative russisch-orthodoxe Priester prangerten sie als Inkarnation des Bösen an, wobei ihnen als Beweis die unbestreitbare Tatsache diente, dass Kartoffeln in der Bibel nicht erwähnt werden. Dagegen behauptete der kartoffelfreundliche englische Alchemist William Salmon 1710 , die Knollen würden «den ganzen Körper nähren, der Auszehrung entgegenwirken [Tuberkulose heilen] und die Geschlechtslust reizen». Der französische Philosoph Denis Diderot vertrat in seiner wegweisenden
Encyclopédie
( 1751 – 1765 ), Europas erstem allgemeinen Kompendium der Aufklärung, einen vermittelnden Standpunkt. «Gleich, wie man die Wurzel zubereitet, sie ist geschmacklos und mehlig», schrieb er. «Sie kann nicht als schmackhaftes Nahrungsmittel gelten, aber sie liefert Menschen, die nichts als Nahrhaftigkeit begehren, eine hinreichend gesunde Speise.» Diderot hielt die Kartoffel für «blähend». Trotzdem befürwortete er sie. «Was», so fragte er, «bedeutet Blähsucht im Vergleich zu den kräftigen Körpern von Bauern und Arbeitern?»
Angesichts so halbherziger Unterstützung nimmt es nicht wunder, dass die Kartoffel sich außerhalb der spanischen Kolonien nur langsam verbreitete. Als Preußen 1744 unter einer Hungersnot litt, befahl Friedrich der
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