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Kolumbus' Erbe: Wie Menschen, Tiere, Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen (German Edition)

Kolumbus' Erbe: Wie Menschen, Tiere, Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen (German Edition)

Titel: Kolumbus' Erbe: Wie Menschen, Tiere, Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles C. Mann
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zu Missernten kam, folgten Aufstände; Tausende waren es nach Auskunft des namhaften französischen Historikers Fernand Braudel zwischen 1400 und 1700 in Europa. Immer wieder brachen die Aufständischen – oft unter Führung von Frauen – in Bäckereien, Kornspeicher und Mühlen ein, um die Lebensmittel entweder zu stehlen oder die Kaufleute zu zwingen, einen «gerechten» Preis zu akzeptieren. Ausgehungerte Räuber machten die Handelsstraßen unsicher und überfielen die bewachten Getreidekonvois, die auf dem Weg in die Städte waren. Die Ordnung wurde durch blutige Gegenmaßnahmen wiederhergestellt.
    Braudel zitiert eine Zählung der Hungersnöte in Frankreich aus dem 18 . Jahrhundert: vierzig landesweite Katastrophen zwischen 1500 und 1778 , mehr als eine pro Jahrzehnt. Diese entsetzliche Zahl, so schreibt er, gebe noch nicht einmal das tatsächliche Ausmaß der Nahrungsknappheit wieder, «sie übergeht Hunderte und Aberhunderte von örtlich begrenzten Hungersnöten». Frankreich bildete keine Ausnahme; in England gab es zwischen 1523 und 1623 siebzehn nationale und größere regionale Hungerkatastrophen. Florenz, keine arme Stadt, «erlebt zwischen 1371 und 1791 111  Hungerjahre bei nur 16 ausnehmend guten Ernten» – sieben magere Jahre für jedes fette Jahr. Europa konnte nicht für eine verlässliche Ernährung seiner Bevölkerung sorgen. Es saß in der malthusischen Falle. [427]
    Wie die Süßkartoffel und der Mais in China ermöglichte die Kartoffel – in geringerem Maße auch der Mais – dem Kontinent, Malthus zu entkommen. Als der Experte Arthur Young in den 1760 er Jahren durch Ostengland reiste, sah er eine Agrarwirtschaft, die an der Schwelle zu einer neuen Ära stand. Als gewissenhafter Forscher befragte Young die Bauern und machte sich Aufzeichnungen über ihre Anbaumethoden und den Umfang ihrer Ernten. Nach seinen Zahlen betrug in Ostengland die durchschnittliche Jahresernte an Weizen, Gerste und Hafer pro Hektar zwischen 1500 und 1700 Kilogramm. Dagegen ließen sich rund 29 000  Kilo Kartoffeln auf einem Hektar erzielen – etwa achtzehnmal so viel. [29] Der Anbau von Kartoffeln würde insbesondere den armen Leuten in England helfen, meinte Young. «Es wäre zu wünschen, dass alle Menschen, in deren Macht es steht, dieser Wurzelknolle zu größerer Verbreitung zu verhelfen, ihren Einfluss dahingehend geltend machen.» Kartoffeln, so erklärte er, «können gar nicht genug gefördert werden». [428]
    Die Kartoffeln ersetzten das Getreide nicht, sondern ergänzten es. Jahr für Jahr hatten die Bauern bis zu einer Hälfte ihres Landes brach liegen lassen, damit der Boden sich erholen konnte und sie des Unkrauts Herr wurden, das im Sommer untergepflügt worden war. Jetzt konnten die Bauern auf diesen Äckern Kartoffeln anbauen und das Unkraut durch Hacken eindämmen. Da Kartoffeln so produktiv sind, ließ sich – in Kalorien ausgedrückt – Europas Nahrungsmittelerzeugung verdoppeln. «Zum ersten Mal in der Geschichte Westeuropas wurde eine definitive Lösung für das Nahrungsproblem gefunden», erklärte der belgische Historiker Chris Vandenbroeke. Unverblümter drückte sich der deutsche Historiker Joachim Radkau aus: «Kartoffel und Coitus interruptus sind umweltrelevante Schlüsselinnovationen des 18 . Jahrhunderts.» Kartoffeln – und wiederum Mais – wurden zu dem, was sie in den Anden waren: ein Grundnahrungsmittel, das immer verfügbar war, das zu jeder Speise gegessen wurde. Für vierzig Prozent der Iren waren Kartoffeln die einzige feste Nahrung, die sie zu sich nahmen. Mit einer Rate von zehn bis dreißig Prozent traf dies für die Niederlande, Belgien, Preußen und vielleicht auch Polen zu. Im Kartoffelland, einem über 3000 Kilometer langen Streifen, der sich von Irland im Westen bis zum Ural im Osten erstreckte, verschwanden die regelmäßig wiederkehrenden Hungersnöte fast ganz. Dank der Ankunft der Kartoffel konnte der Kontinent sich endlich versorgen. [429]
    Zwar führte die Kartoffel zu einer generellen Steigerung der Agrarproduktion, doch ihr größerer Nutzen lag darin, dass sie die Erzeugung zuverlässiger machte. Vor Einführung von
S. tuberosum
war der Sommer meist eine Zeit des Hungers, in der die Getreidevorräte vor der Herbsternte zur Neige gingen. Kartoffeln, die nur drei Monate zur Reifung brauchen, konnten im April gepflanzt und in den Mangelmonaten Juli und August ausgegraben werden. Dank ihrer frühzeitigen Ernte war es unwahrscheinlich, dass ein

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