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Kolumbus' Erbe: Wie Menschen, Tiere, Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen (German Edition)

Kolumbus' Erbe: Wie Menschen, Tiere, Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen (German Edition)

Titel: Kolumbus' Erbe: Wie Menschen, Tiere, Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles C. Mann
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Große, ein Befürworter des neuen Nahrungsmittels, den Bauern, Kartoffeln zu essen. In England hielten die Bauern
S. tuberosum
für die Speerspitze der verhassten römisch-katholischen Kirche. «Keine Kartoffeln, keinen Papismus!», lautete ein Wahlslogan des Jahres 1765 . Noch 1862 legte Isabella Beeton, die Autorin eines berühmten Ratgebers über Kochen und Haushaltsführung, ihren Lesern dringend ans Herz, nicht das Wasser zu trinken, «in dem Kartoffeln gekocht wurden». Besonders lange brauchte die neue Feldfrucht, um sich in Frankreich durchzusetzen. Für die verkannte Knolle warfen sich Ernährungskundler, Impfbefürworter und der Kartoffel-Advokat Antoine-Augustin Parmentier, der Johnny Appleseed von
S. tuberosum
, in die Schanze. [425]
    Der gelernte Pharmazeut diente in der Armee und geriet während des Siebenjährigen Krieges fünfmal in preußische Gefangenschaft. Dort bekam er drei Jahre lang kaum etwas anderes als Kartoffeln zu essen, die ihn zu seiner Überraschung bei guter Gesundheit hielten. Seine Bemühungen, die Gründe dafür zu entdecken, ließen Parmentier zu einem Pionier auf dem Gebiet der Ernährungschemie werden, er war einer der ersten Naturkundler, die zu ergründen versuchten, was Nahrung ist und warum sie für den Fortbestand des Körpers sorgt. Als 1769 und 1770 ungünstige Regen- und Schneefälle in Teilen Ostfrankreichs Missernten verursachten, schrieb eine regionale Akademie einen Wettbewerb aus: «Pflanzen, die in Notzeiten reguläre Lebensmittel zur Ernährung des Menschen ersetzen könnten». Fünf von sieben Einsendungen empfahlen die Kartoffel. Mit seinem Essay, dem eindrucksvollsten und bestdokumentierten Beitrag, gewann Parmentier den Wettbewerb. Es war der Beginn seiner Karriere als Kartoffelaktivist.
    Der Zeitpunkt war günstig. Vier Jahre nach der Hungersnot war eine der ersten Maßnahmen des frisch gesalbten Königs Ludwig  XVI ., die Preiskontrolle für Getreide aufzuheben. Die Brotpreise schossen in die Höhe und lösten den sogenannten Mehlkrieg aus: mehr als dreihundert Bürgeraufstände in zweiundachtzig Städten. Während all dieser Unruhen empfahl Parmentier unermüdlich die Kartoffel als Lösung. Mit der Behauptung, Frankreich werde aufhören, über Brot zu streiten, wenn die Franzosen Kartoffeln äßen, inszenierte er eine Kartoffel-Werbeveranstaltung nach der anderen: Er überredete den König, Kartoffelblüten zu tragen; lud Gäste aus der vornehmen Gesellschaft zu einem nur aus Kartoffeln bestehenden Festmahl ein; [28] bepflanzte sechzehn Hektar Land vor den Toren von Paris mit Kartoffeln, wohl wissend, dass die hungernden Sansculotten sie stehlen würden. Seine Bemühungen waren von Erfolg gekrönt. «Die Kartoffel», hieß es in einem späteren Ergänzungsband zu Diderots
Encyclopédie
, «ist die Frucht, die mehr als die Hälfte der Bewohner von Deutschland, der Schweiz, Großbritannien, Irland und vielen anderen Ländern ernährt.»
    Durch sein Loblied auf die Kartoffel veränderte Parmentier sie, ohne es zu wissen. Alle europäischen Kartoffeln stammten von einigen wenigen Knollen ab, die von neugierigen Spaniern über den Ozean gesandt worden waren. Genetisch betrachtet, sind die europäischen Sorten dadurch entstanden, dass man einem Meer von Genen in Peru und Bolivien einen Teelöffel voll entnahm. Parmentier drängte seine Landsleute, diese kleine Stichprobe in gigantischem Maßstab zu kultivieren. Da zum Anbau von Kartoffeln Stücke der Knollen, die Stolonen – Wurzelausläufer –, in den Boden gesetzt werden, förderte er unwissentlich die Entstehung riesiger Ackerflächen mit Klonen – eine echte Monokultur. Die Kartoffelfelder, die er sich vorstellte, waren daher vollkommen verschieden von den ursprünglichen Anbauflächen in den Anden. Bei diesen handelte es sich um ein vielgestaltiges Durcheinander von unüberschaubaren Ingredienzen; bei jenen um eine säuberliche Aufreihung identischer Teile. [426]
    Die Auswirkungen dieser Verwandlung waren so umwälzend, dass jede allgemeine Geschichte Europas, in deren Register der Eintrag
S. tuberosum
fehlt, getrost beiseitegelegt werden darf. Hunger war eine allgegenwärtige Erscheinung im Europa der Kleinen Eiszeit, in der die Klimaabkühlung die Ernten vernichtete, während gleichzeitig das spanische Silber die Preise in die Höhe trieb. In den meisten Jahren blieben die von Bewaffneten bewachten Kornspeicher der Städte einigermaßen gefüllt, aber die Landbevölkerung litt bitterste Not. Wenn es

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